Alte Heimat - Neue Heimat

Meine Heimat - im Sinne von Vaterland - ist Deutschland; und wenn es auch zeitweise ein "schwieriges Vaterland" war, habe ich doch nicht gewünscht, ein anderes Vaterland zu haben. Meine Heimat im engeren Sinn ist Thüringen, und dort kristallisieren sich meine Gefühle auf zwei Punkte:
1. ein kleines Dorf im Thüringer Wald und
2. Erfurt, die größte und wesentlichste Stadt Thüringens.
Zwei gegensätzliche Punkte, die sich aber hervorragend ergänzen.
Die ersten 10 Lebensjahre verbrachte ich also in einem Dorf von etwa 600 Einwohnern im südlichem Thüringer Wald. Hier lag mein Kinderparadies, und wenn ich das Lied höre oder lese:
"Im schönsten Wiesengrunde
steht meiner Heimat Haus ...“
steht mir unser Tal vor Augen. Wir wohnten in einem geräumigen alten Haus, hinter dem sich ein großer Garten den Berghang hinauf zog. Durch das Tal floss ein Flüsschen, in dem wir im Sommer baden konnten. Das war ganz ungefährlich: das Wasser war sauber und so flach, dass nichts passieren konnte. Allerdings trieb das Flüsschen sogar eine Mühle, und im Frühjahr bei der Schneeschmelze im Thüringer Wald konnte es den ganzen Talgrund überschwemmen. Im Dorf kannte jeder jeden, und wir Kinder waren im ganzen Dorf zu Hause. Wunderschön war es, wenn wir mit zur Heuernte durften und dann hoch oben auf dem duftenden Heu ins Dorf zurückfuhren. Aber kein Paradies währt ewig!
In Erfurt dann bin ich zur Schule gegangen, habe an der Königin Luise-Schule Abitur gemacht, derselben Schule, die schon meine Mutter besucht hatte, und ich war auch nach dem Studium die ersten Berufsjahre wieder in Erfurt. Ich wurde bald in Erfurt heimisch, kannte mich aus und habe gelegentlich für Freunde und Verwandte den Fremdenführer gespielt. Erfurt war und ist auch heute noch eine der schönsten und geschichtsträchtigsten Städte Deutschlands. Ein "Bilderbuch der deutschen Geschichte" nannte es Arnold Zweig, "Erfordia turrita" - das "Türmereiche Erfurt" hieß es im Mittelalter und die "Blumen -, Luther- und Domstadt" zu meiner Zeit. - Während die Einfahrt in viele andere Städte dieser Größenordnung durch wenig schöne Industriegebiete führt, fährt man nach Erfurt durch weite bunte Blumenfelder, ein Anblick, den ich schon als Kind liebte. - Aber es würde zu weit führen, all die Schönheiten und Besonderheiten der Stadt hier zu beschreiben. Doch auch die Erfurter Zeit ging zu Ende: Ich musste Hals über Kopf aus der DDR fliehen, und erst als ich hier im Westen zur Besinnung kam, wurde mir bewusst, dass ich damit meine alte Heimat verloren hatte.
Meine neue Heimat wurde nun nach einer Zwischenzeit an der unteren Sieg das Oberbergische in NRW. Ich habe mir diese neue Heimat nicht selbst ausgesucht. Wir DDR-Flüchtlinge wurden damals nicht in Watte gepackt, sondern wurden in ein Land eingewiesen, das seine Aufnahmequote noch nicht erfüllt hatte, in meinem Fall NRW. Amtlicherseits, ich war Lehrerin am Gymnasium, wurde ich hier recht unfreundlich aufgenommen, während ich privat viel Freundlichkeit erfuhr. Nun also eine neue Heimat, in der ich Fuß fassen musste. Landschaftlich ist das Oberbergische wirklich schön, mit seinen weiten Wäldern, den Talsperren und den Fachwerk- Dörfern und "bunten Kerken". Man kann hier gut wandern und die Gegend erkunden. Aber eine historisch bedeutende Stadt wie Erfurt findet man hier nicht, da muss man schon bis Köln fahren. Mit der Zeit begann ich mich auch hier heimisch zu fühlen, besonders als ich hier neue Freunde kennen lernte. Schließlich war ich den SED-Kadern sogar dankbar, dass sie mich zur Flucht gezwungen hatten, denn hier lebte ich freier als in der DDR und konnte reisen, wohin ich wollte. Aber wie stark das Gefühl für die alte Heimat immer noch ist, merkte ich, als ich in den 8Oer Jahren mit dem Auto wieder nach Thüringen fuhr: Als nach endloser Grenzabfertigung schließlich die Wartburg vor mir aufragte, liefen mir die Tränen übers Gesicht. Die Wartburg war mir immer ein Symbol für Deutschland: Der Sängerkrieg, die Heilige Elisabeth, Luther, das Burschenschaftsfest und meine privaten Wartburg-Erlebnisse! Ich war wieder zu Hause! Andererseits: nach der Wende habe ich nicht etwa gleich Koffer gepackt, um nach Erfurt zurück zu ziehen, obwohl wir sogar das großelterliche Haus zurückbekamen. Inzwischen lebe ich länger hier als insgesamt in Thüringen, und die menschlichen Bindungen sprechen für die neue Heimat.
So habe ich also zwei Heimaten: eine neue, in der ich seit nun schon über 40 Jahre lebe, und eine alte, der ich mich immer noch verbunden fühle. Ich besuche Thüringen immer wieder gern und freue mich über jede positive Nachricht von dort. Und so kann ich den Zustand, zwei Heimaten zu haben, vielleicht nicht in erster Linie als Verlust der einen oder Zerrissenheit zwischen beiden ansehen, sondern auch als Bereicherung.

Hildegard Ehlert