Anfang Juni 1945 - Kleiner Reisebericht


Der Frühling ist herrlich, der Krieg ist zu Ende. In Bayern sind Amerikaner, Jeeps, Motorboote. Wir staunen: Kaugummis, lockere Bewegungen, auch sie sind erleichtert.
Wir waren vor den Bomben im Ruhrgebiet geflohen, verwitwete Mutter, 14-jähriger Sohn, studierende Tochter. Wir sammeln Holz, Brombeerblätter, auch Eier auf einsamen Höfen. Wie zufrieden die Mutter dabei ist! Aber da gab es - vielleicht noch - ein schönes Haus in Duisburg, nur keine Post, kein Telefon, keinen Bahnverkehr, Autos sowieso nicht. "Mutter, ich werde nachsehen, es fährt ein Güterzug, mit dem Schlemmkohle an der Ruhr geholt werden soll." Mit zwei Frauen und vollem Rucksack klettere ich hinauf. Es geht langsam. Wie lange bleiben wir nachts eigentlich stehen, und wo? Wasser zum Waschen? Na ja!

Am 4. Tag ist Sonntag. Dieburg vor Darmstadt. Zwei amerikanische Soldaten prüfen die Ausweise, die es in Bayern noch nicht gab. Aussteigen! Auf Lastwagen durch die sommerliche Stadt mit flanierenden Menschen. Im Zuchthaus Trennung nach Geschlechtern. Im großen Raum 20 Menschen, ein Eimer in der Ecke. Wo sind meine Mitreisenden? Ich dränge, komme in einen Raum mit drei Frauen, eine Dame mit Bettwäsche im Köfferchen kommt dazu, herausgeholt aus einem Personenzug, der hier schon fährt. Am Morgen darf man in einen Gottesdienst gehen, wo es eine Predigt über die Buße gibt und die Versicherung: "In vierzehn Tagen bin ich ja wieder bei euch." Ein Offizier prüft meinen Lebenslauf vom "Jungmädel" über die "Arbeitsmaid" bis zur Kriegshilfsdienstleistenden. Versteht er alles? Er schreibt meinen Ausweis und entlässt mich zu neuen Abenteuern auf Schienen und Straßen.

Zum Beispiel auf der Rückfahrt, als unser alter Krankenkastenwagen plötzlich ein Loch an einer Ecke hatte, ein Rad war verloren, wo es steil abwärts ins Siegerland ging. Übernachtung bei herzlich guten Menschen, die uns nur zu gern zu Zeugen Jehovas gemacht hätten. Das Rad verloren wir ein zweites Mal, so kamen wir nicht mit der Firma Horten, der das Auto gehörte, nach Württemberg, sondern ab Darmstadt mit einem Riesenlaster voller Küchenherde. Beim Regen steckten wir unsere Köpfe in die Backöfen. Nächtliches Ausgangsverbot in Stuttgart. "Bringen Sie uns doch zur Polizei!" Was für ein Glück! Zwei Pritschen, sicher zur Ausnüchterung bestimmt.

Nun Tübingen. In einem amerikanischen Jeep gelangten wir bis zur Grenze der französischen Besatzungszone. So leicht kam man hier nicht hinein, also zu Fuß durch den Wald.
Einige Tage später bin ich allein im zerstörten Ulm. Hin und zurück über die Gleise des nicht mehr vorhandenen Bahnhofs, das Elternhaus meiner Tante ist zerstört.. Ihr Bruder wohnt in einem anderen Stadtteil, höre ich von der polnischen Familie, die im Keller lebt. Dämmerung, Trümmerhäuser, kein Licht in den Straßen. Ein junger Mann bietet mir einen Platz auf seinem Fahrrad an. Gut so. "Sie können auch in meinem Gartenhaus übernachten." Hätte er sich nur etwas weniger für meine Taille interessiert! Die Verwandten nehmen mich auf. Gerettet, wieder einmal.

Das Haus in Duisburg stand noch, es war voll mit fremden Menschen, aber damit beginnt ein neues Kapitel.

Mechthilde Stricker, Jg. 1924