1945 Der Mantel

Der Vorfall ereignete sich während einer Vertreibung, wenn die Strecke zum Zufluchtsort auch nur zwei km betrug, und die Rückkehr in die wenig veränderte Umgebung schon nach sechs Wochen möglich wurde. Es ist auch der Bericht über Erfahrungen, für welche die Besetzung und Vertreibung nur der Anlass waren, die aber eingreifender für die Studentin waren als die übrigen Geschehnisse der damaligen Zeit.

Zu Beginn der Ereignisse, die hier erzählt werden sollen, war das betäubende Dröhnen der schweren Panzer auf der Landstraße von Greifswald nach Stralsund kaum verstummt; es war in den ersten Tagen des April 1945. Der Tatbestand war einfach und eindeutig, sogar einsehbar. Die sowjetischen Offiziere der Kommandantur in der gottlob ohne Kampf eingenommenen Stadt wollten angemessen wohnen; und da bot sich die großzügig angelegte Siedlung mit Einfamilienhäusern vor dem Dorf Neuenkirchen im Norden Greifswalds an. Sie lag in angemessener Entfernung von der Stadt, eben um die schon erwähnten zwei km nach Norden hin. Also wurde den Bewohnern der 'Kolonie' - so hieß diese Wohnsiedlung tatsächlich - mitgeteilt, sie hätten in einer Stunde ihre Häuser zu verlassen, da diese für den Stab der Besatzungstruppen beschlagnahmt seien.

Es war ein Vorgang, der sich in jenen Frühlingstagen in vielen deutschen Städten ereignete, er war weder brutal noch tragisch - er war einfach zweckmäßig. Familie M. und ihre Studentin brachen gemeinsam auf - zogen in einer kleinen Karawane über die Chaussee - zwei km weit nach Süden, auf die Stadt Greifswald zu und an den Wiesen vorbei, die C. D. Friedrich so oft gemalt hat.
Die Studentin hatte sich in Neuenkirchen bei ihrer Wirtsfamilie wohlgefühlt und hatte trotz der allgemeinen Umstände, die eigentlich außerhalb jeder normalen Zeit lagen, ihren Wohn- und Studienalltag genossen. Familie M war entgegenkommend und herzlich, sie hatte Susanne wie ihr zehntes Kind ins Haus aufgenommen. Dieses Gefühl der Geborgenheit hielt übrigens über den Zeitraum der Vertreibung hinaus an - bis zu der Zeit etwa, von der der zweite Teil des Textes erzählt, als die Familie M. nach sechs Wochen wieder zurück in ihr Haus zog, aber wegen beschränkender Einquartierung ihre Vice-Tochter nicht wieder aufnehmen konnte.

Die drei Personen, Herr M., Frau M. und ihre Studentin zogen mit den wenigen Gegenständen, die sie auf zwei Fahrrädern verstauen konnten, aus der bisher noch bewahrten Sicherheit und Geborgenheit, dem Eigentum und der Unterkunft, fort; sie, die vor ein paar Tagen noch ihrerseits Flüchtlinge aus dem großen Treck beherbergt hatten. Bis zu dieser Stunde hatten M.s zu den Besitzenden gehört, den Heimischen, die den durchziehenden Anderen seit den Januartagen des Jahres zu Nothelfern, zu Notstationen geworden waren, mehr oder weniger freiwillig ihren Küchenherd und Lagerstätten zur Verfügung stellend und vielfach von heimlichem Neide angefeindet; M.s hatten übrigens ihr Haus mit Freundlichkeit geöffnet. - Man kann sich heute nur noch schwer diese Einteilung der Menschen in Einheimische und Flüchtlinge ins Gedächtnis rufen. Der ehemaligen Studentin gelingt es, während sie dies aufschreibt, wohl auch nur deshalb verhältnismäßig mühelos, weil für sie in ihrem weiteren Leben Elemente von Flucht und Vertreibung bzw. der Flucht vor der zumindest gefürchteten Vertreibung wesentliche Prägemerkmale geblieben sind.

Susanne gehörte damals zu keiner der beiden Personengruppen, nicht zu den Einheimischen und nicht zu den Heimatlosen. Sie stand ihrer Lebensform nach gewissermaßen zwischen beiden, war ein freiwillig gekommener Gast, der auf längerer Reise durch Studium und Leben begriffen war. Sie hatte deshalb rasch, wenn auch noch betäubt von dem nie wieder vergessenen Geräusch der durchziehenden Panzer - ihre Sachen aus dem gemieteten Schrank genommen und in einen Sack verstaut. Wie aber würde die Hausfrau auf die kurze Mitteilung reagieren? "In einer Stunde müssen Sie das Haus verlassen!" Würde sie in Panik geraten? Würde sie sinnvoll und planmäßig handeln? Die Studentin war mit ihrem eigenen Auszug so beschäftigt, dass sie erst im Nachhinein begreifend sich erinnert. Der erste Schrecken wandelte sich bei Frau M. überraschend schnell in eine, allerdings mit einer verständlichen Betriebsamkeit gepaarte Gelassenheit, während der Mann, ein 70 jähriger ehemaliger Architekt von ausgesprochen gentlemanhafter Liebenswürdigkeit, nur das zur Verständigung Nötige sprach und mit leicht verkniffenem Mund die Pfeife hielt.

Frau M. packte nicht Silber und andere Wertsachen ein - diese lagen schon längst mit der kostbaren Briefmarkensammlung ihres Mannes im Garten vergraben - und wurden später nicht mehr aufgefunden.
Die Frau griff etwas Wäsche und Lebensmittel - soweit handelte sie durchaus planvoll. Aber sie nahm von ihrer geliebten Sammlung unzähliger Paar Schuhe nur ein einziges Paar mit - und lachte später darüber: es blieb für längere Zeit ihr einziges Paar. Das Wichtigste aber waren ihr die Hühnerküken, die sie sorgfältig in einem Korb unterbrachte. Zurückgelassen, würden sie wahrscheinlich in kurzer Zeit eingehen; und sie konnten andererseits die Grundlage für eine neue Zucht und auch die Basis für die Ernährung de Familie bilden. Wie weit sich hier Fürsorge, Irrationalität und vorausplanendes Besitzdenken verbanden, ist schwer zu sagen. Mit dem Fahrrad war der Hühnerkorb jedenfalls schwierig zu transportieren.

Es war kühl - Wanderwetter - ohne Sonne und ohne Niederschlag. Frau M. hatte Freunde in der Stadt: ein Dach über dem Kopf würde man haben. Fünf Minuten brauchte man mit dem Fahrrad für den Weg durch die Wiesen, wenn man nur einen Einkaufskorb oder eine Kollegmappe bei sich hatte. Die Wiesen waren im Vorfrühling graubraun, wurden dann hell und später kräftig grün; und von Woche zu Woche war das Grün durchsetzt und verändert von immer anderen Blüten, von Butterblumen, Hahnenfuß, Wiesenschaumkraut und vielen anderen Pflanzen, deren Farben und Namen der Berichterstatterin nicht mehr in Erinnerung sind. Sie weiß nicht, wie die Wiesen zu beiden Seiten der Straße an diesem Tag im April gefärbt waren, hat es damals wohl auch nicht gesehen. Wahrscheinlich ging der Farbton gerade vom Bräunlichen zum Grün über - am 1. April hatten die ersten Anemonen im Wald geblüht. Sie waren nicht in fünf Minuten in der Stadt, sie schoben die Räder und balancierten Säcke und Hühnerkorb darauf. Sicher dauerte es mindestens eine halbe Stunde - dann waren die drei Dahinstapfenden am ersten Haus angelangt, das links mit seiner hässlichen schwarzen Giebelwand an der Straße stand. - Ob sie gesprochen haben auf dem Weg? Ich weiß es nicht; aber ich vermute, dass sie aufgeregt und nutzlos geredet haben, vor allem wohl über den bevorstehenden Empfang bei Frau M.s Freundin.

Wahrscheinlich haben die beiden Älteren die Studentin vorbereitet auf die künftigen Wirtsleute.
Susanne war deshalb nicht erstaunt über die stämmige Frau von etwa 50 Jahren mit blaurotem Gesicht. "Sie trinkt", hatten M.s gesagt, "aber sie ist gutmütig und hilfsbereit, die Lilo." Ihr Ehemann kam weniger in Betracht, war ebenfalls von robuster Statur und geschwätzig - man brauchte nicht hinzuhören. Beide schienen nicht besonders erstaunt über M.s Kommen; in einer kleinen Stadt und vor allem bei Geschäftsleuten spricht sich rasch alles herum, auch ein Räumungsbefehl. Dass sie ihre Studentin mitgebracht hatten, verübelte man M.s nicht. - Die Ankömmlinge wurden beköstigt - ein Geschäftsmann und Hausbesitzer hatte so manches, was andere, vor allem die Heimatlosen, nicht auftreiben konnten. Für die Studentin jedenfalls war die Situation zivilisierter als das Hausen mit neunzig anderen Studentinnen in einem großen Tanzsaal auf blankem Stroh. Das war im Jahr davor gewesen, beim - wie sich später herausstellte - völlig nutzlosen Ostwall- Schippen. Jetzt schliefen sie zu dritt auf Matratzen im Wohnzimmer der Frau Lilo. Allerdings nur für ein paar Nächte. Denn da gab es eine winzige Kammer mit Bett und Kommode, die Familie X der Studentin - gegen Bezahlung, versteht sich - zur Verfügung stellte. Erstaunlicherweise begannen nämlich in diesen Tagen die Vorlesungen an der Universität. Und man hatte offenbar Verständnis dafür, dass eine Studentin einen Raum zum Arbeiten brauchte.

An ein provisorisches Leben gewöhnt, saß Susanne denn auch kurz darauf mit ihren Skripten und Büchern an der Kommode und versuchte sich mit mittelhochdeutscher Literatur zu beschäftigen.
Die Heimatlosen zogen weiter durch das Land, aber hier kamen nun keine Trecks mehr vorbei. - Als übrigens der Mann der Frau Lilo mit Susannes Fahrrad Besorgungen mache, wurde dieses wertvolle Stück gestohlen. Der tüchtige Geschäftsmann besorgte indessen binnen kurzem ein anderes Rad als Ersatz.

Die Berichterstatterin muss sich vorsehen, leicht könnte sie ins Erinnern kommen über diese ersten Wochen der Besatzung in der kleinen Stadt. Nur eine Begebenheit soll hier erwähnt werden, und man kann es damit begründen, dass sie sich in eben der Straße ereignete, durch die die vertriebenen Neuenkirchner gezogen waren: Susanne wollte zum Bäckerladen gehen, um ihre Ration Brot zu holen, wobei sie sich stets etwas darauf zugute tat, dass sie das Stück schwarzes, klebriges Brot wenigstens bis nach Hause brachte, während ihre Freundin bereits auf der Straße hineinbiss. Diesmal gelangte die Studentin nicht bis zum Laden, sondern wurde vorher von einem fremden Laut überrascht. Ihr wurde bedeutet, dass sie mit in einen Keller gehen sollte, was natürlich die in solcher Situation übliche Angst aufsteigen ließ. Nach Prüfen des Ausweises in der Kontrollstelle wurde sie dann auf die Landstraße zwischen den Caspar David Friedrich-Wiesen geschickt, um eine Stunde lang aufzuräumen, d.h. die in den Straßengraben geworfenen Stahlhelme und ähnliche Requisiten der deutschen Soldaten aufzulesen und zusammenzutragen. Ein gewiss sehr vernünftiger, notwendiger Arbeitseinsatz für einen Bewohner des Landes.

Nach sechs Wochen konnte Familie M. in ihr - allerdings durch soldatische Einquartierung enger gewordenes -Haus zurückkehren. - Die Straßensperre bestand weiterhin, aber es war Susanne - die übrigens durch Vermittlung der trinkfesten Frau Lilo ein richtiges großes Zimmer in der Stadt gefunden hatte - möglich, ihre alte Wirtsfamilie zu besuchen. Die Furcht vor erneuter Arbeitsstunde zwischen den Wiesen erwies sich als unbegründet. Einige fremdklingende Sätze, eine nicht übermäßig langdauernde Verständigung über Ziel und Sinn des Ganges, und sie konnte mit einem gestempelten Stück Papier die zwei km weit gehen, um ihren Besuch zu machen. Bei M. s war soweit alles in Ordnung. Freilich, die Schuhe der Hausfrau fehlten, manches andere wohl auch, Vasen waren zweckentfremdet verwendet worden. Die Einquartierung aber war nett - nur erregte man sich über einige Mädchen im Ort, die 'mit Russen gingen'; vermutlich hatten sie auf diese Weise ein paar Scheiben Brot mehr als andere.

Damit könnte die Notiz über Vertreibung und Rückkehr eigentlich abgeschlossen werden, wenn die Geschichte nicht eine Fortsetzung gefunden hätte, die für das bis dahin trotz aller Erlebnisse der letzten Jahre wohlbehütete Schul- und Universitätsmädchen bedeutsam wurde. Eines Tages sah Susanne in der Stadt ihren Mantel, dessen Verlust ihr erst jetzt zum Bewusstsein kam. Eine ihr völlig fremde Frau trug ihn, aber es war unverkennbar ihr eigener. Staubmantel nannte man ihn damals, er war leicht und von dunkelroter Farbe. Die Studentin ging auf die Frau zu und verlangte ihren Mantel, fragte auch, wie die Frau an ihn gelangt sei. Die Trägerin des Mantels tat entrüstet, weigerte sich, das Kleidungsstück herzugeben. Susanne war nie bisher in einer solchen Situation gewesen, wo sie mit Hartnäckigkeit auf ihrem Recht und wie in diesem Fall auch Besitz hätte beharren müssen, wenn nicht der Besitz eines Mantels in diesen Tagen ein außerordentlich wichtiger Umstand gewesen wäre, wenn ein solches Kleidungsstück überhaupt irgendwie hätte wieder beschafft werden können. Und außerdem - vielleicht war das für das sonst schüchterne und eher zum Verzicht als zur Forderung neigende Mädchen ausschlaggebend - es hatte einen in seinen Augen eindeutigen Beweis für sein Besitzrecht: So planvoll hatte die Studentin nämlich nicht gepackt an jenem frühen Apriltag. Sie hatte den Mantel vergessen, wie ja auch ihre Schreibmaschine, nicht bedenkend, dass man in solcher Situation gar nichts zurücklassen sollte. Aber was konnten russische Soldaten mit einer Schreibmaschine anfangen, die nur deutsche Buchstaben hergab, und was mit einem alten Mädchenmantel? Sie hatte jedoch zufällig den Gürtel dieses Mantels eingesteckt. Und so lud sie die fremde Frau im fremden Mantel ein, mit ihr zu gehen und sich selbst zu überzeugen, dass der Gürtel zu keinem anderen Mantel gehören konnte. Eine etwas peinliche Situation war es schon, als die Frau den Mantel auszog und daließ, sich damit entschuldigend, dass sie 'draußen bei den Russen' saubergemacht habe und dabei - von ihren vorübergehenden Arbeitgebern nicht gehindert, vielleicht sogar ermutigt - den Mantel mitgenommen habe.

Die Studentin hat später diese Geschichte wie eine kauzige Anekdote erzählt und mehrmals bewundernde Worte für ihre Hartnäckigkeit gehört, wo es doch nur um eine Notlage ging. Aber war das wirklich alles, was hinter dieser Episode steckte? Für Susanne bedeutete es einmal mehr - neben manch anderer Erfahrung dieser Monate - eine für sie erstaunliche Erkenntnis über Menschen, die sie bisher in Deutsche und Feinde eingeteilt hatte; wobei sie von den Vorzügen 'deutscher Menschen absolut überzeugt gewesen war. Das Erlebnis mit dem Mantel verhalf ihr zur Entdeckung eines Diebstahls, einer zwar aus der Not verständlichen Verwirrung, aber doch einer überaus überraschenden Handlung. Einen Diebstahl konnte man es kaum nennen, eher eine Plünderung (wo mochte die Schreibmaschine stecken? Auch der Verbleib von Silber und Briefmarkensammlung ließ sich erraten). Das Bedenkliche an diesem Mitnehmen war, dass der Raub nicht nur Leute betraf, denen bei ihrer vorhersehbaren , ja gewissen Rückkehr diese Dinge fehlen würden. 'Die eigenen Landsleute bestehlen' - so hochtrabend etwa formulierte es die Studentin in ihren Gedanken - Es klang wie "Kameradendiebstahl', und es muss peinlicherweise gesagt werden, dass das Mädchen tatsächlich an so etwas dachte. Und es hat lange gedauert, bis es begriff, dass dieser Diebstahl so gemein oder nicht gemein war wie jeder andere aus Not begangene; und daß die Bedeutung für sie nur hätte darin liegen sollen, daß er ihr selbst zugefügt wurde. Übrigens war inzwischen das Semester abgebrochen worden und die Studenten in den Landeinsatz geschickt worden, was in diesen unnormalen Zeiten gewiss das Normalere war.

Die Episode mit dem Mantel so ganz am Rande der eigentlichen Ereignisse setzte für die Berichterstatterin einen Prozess in Gang, der nicht nur ein anderes Verhältnis zu ihren 'Landsleuten' bewirken sollte, sondern auch weiterführende Überlegungen über die unzulässige Eingeteiltheit von Menschen in Besitzende und Nicht-Besitzende, in Besetzende und Besetzte - wie immer man diese Reihe von Gegensätzen und Einteilungen auch fortführen mag. Vor allem aber ergab diese Episode eine Reihe von, für sie gottlob dauerhaften, erschreckenderweise aber anderen - kaum den eigenen Kindern - übergebbaren Erfahrungen. Ein Mensch von normaler Selbstdisziplin stürzt sich noch vor dem Laden auf das eben erworbene bzw zugeteilte Brot. - Einer, dem nie der Wunsch nach fremdem Eigentum in den Sinn gekommen war, nimmt etwas für ihn, aber auch für einen anderen, den eigentlichen Besitzer, Nötiges an sich. Ein schüchternes Mädchen bringt es über sich, ihr gestohlenes Eigentum zurückzuverlangen. Eine Phase von Gutgläubigkeit und Naivität wurde für die Junge Frau auf schmerzhafte Weise beendet.

Sabine Krüger