Die braune Umwelt bricht in die Seelen ein

1936 wurde es Pflicht, Mitglied der Hitlerjugend zu werden. Ich erwartete nichts Gutes, aber es sah für mich anders aus als erwartet. Die Aufnahmefeier fand auf dem Kaiserberg statt unter dem Reiterdenkmal Wilhelms I. und der Germania, die ihm einen Kranz hinauf reichte. 45 Meter hoch ist der Kaiserberg, und von dieser Stelle aus konnte man die Stadt mit ihren Lichtern unten liegen sehen. Wir standen im Kreis, Feuer wurde angezündet, Gedichte gesprochen, Lieder gesungen. Eines verbindet sich in der Erinnerung mit diesem Tag:

„Deutschland, heiliges Wort Du voll Unendlichkeit ,
über die Zeiten fort seist Du gebenedeit.
Heilig sind Deine Seen, heilig Dein Wald
und der Kranz Deiner stillen Höhen bis an das blaue Meer.“

Lauter vertraute religiöse Wörter, aber mit einem anderen Ziel. Neue Bilder, neue Gefühle. Und die große Führerin, gar nicht straff oder gar militärisch, mit einem leicht unsicherem Lächeln, schon in Unterprima. Die nächsten zweieinhalb Jahre gehörte ich ganz dazu, zum Kummer meiner Eltern.

Bei den „Jungmädeln“ ging es fast so zu, wie man es gelegentlich im Fernsehen sieht: Singen, Sport und noch mal Sport, Geländespiele, Fahrten, etwas weniger Marschieren vielleicht, keine Fähnchen. Wir sammelten Geld und Spielzeug für das „Winterhilfswerk“, Zeitungen und Metallreste für – wen eigentlich? Jedenfalls zu unserem Vergnügen in Bollerwagen. „Hilf mit“ hieß eine Zeitung, und zum Helfen waren wir sicher bereit. Ich wurde Schafts- und Scharführerin mit rot weißer und grüner Kordel am Halstuch und leistete in einer gemeinsamen Feier eine Art Treueid auf Adolf Hitler. Wir fühlten uns stark: Deutschlands Jugend, Deutschlands Zukunft.

Diese Überzeugung wurde in der Schule gestärkt, allerdings nur durch einen einzigen Lehrer, den in Deutsch und Geschichte. 1937 hatte ich die Schule gewechselt. „Städtische Beamte haben ihre Kinder auf städtische Schulen zu schicken“ stand in einem Brief an meinen Vater. In Geschichte hörten wir ständig böse Bemerkungen über die Juden, dabei hatten wir doch noch eine Jüdin in unserer Klasse. Und die Kirche? Natürlich hielten wir alle zu den mittelalterlichen deutschen Kaisern gegen die Päpste. An meiner Bank blieb Herr Doktor S. stehen: „Im Mittelalter wärst Du wohl Äbtissin geworden, aber... Die Christen haben einen Wurmgott, vor dem sie kriechen müssen, die Germanen hatten einen Freundgott, dem sie vertrauen konnten.“ Er durfte auch evangelische Religion unterrichten. Wie wohl?

Am 9. November 1938 gab es überraschend schulfrei, aber wir gingen noch nicht nach Hause. In der Innenstadt waren Schaufenster zerschlagen, vor dem Bettengeschäft unserer Mitschülerin lagen Gänsefedern unter den Scherben. Ich fand es erst schlimm, als meine Mutter entsetzt war über unser schamlos schaulustiges Verhalten. Politik lag uns unbegreiflich fern. Gerda, die stille Jüdin, kam nicht wieder. Natürlich, sie wird ausgewandert sein. (War sie nicht, aber sie hat überlebt.)

Erwachsen werden geht langsam

1938 hatte ich mich noch für meine Mutter geschämt, als sie sagte: „98%, das kann nicht stimmen, ich habe NEIN gesagt.“ Ein Jahr später verstand ich sie ein wenig besser. Die Eingezogenen: „Gehen die denn, gehen die wirklich?“ sagte sie. Meine Begeisterung hatte nachgelassen. Es gab einige Menschen, die mir lieb waren, die dem Staat kritisch gegenüber standen. In der ersten Tanzstunde sagte ein schöner Jüngling zu mir: „Wie gut, dass Sie nicht so ein Typ BDM-Führerin sind.(E. fiel in Frankreich)“ Die neue Klassenlehrerin war kurz vor Kriegsausbruch aus England gekommen. Sie ließ uns aus dem Marchand of Venice auswendig lernen: “The quality of mercy is not strained”, Barmherzigkeit erst macht die Mächtigen groß, „Sie segnet den, der sie gibt, und den, der sie nimmt.“ Werte aus einem bei uns nicht propagierten Menschenbild. Wir lasen einen Aufsatz über das Malen von Winston Churchill , so schöne Sprache, so schöne Gedanken. Und bald danach klang es aus dem Radio: „...denn wir fahren gegen Engeland...“

1940 starb mein Vater. Nun musste ich selber denken. Wie eigensinnig war ich doch gewesen, als er mir den schönen Sammelband Regenbogen von Ida Friederike Görres schenken wollte, ich aber murrte, „Ich will die 13 Bücher der deutschen Seele von Wilhelm Schäfer haben.“ Als ich das harte Stechpalmenblatt, ihn nachahmend, in meiner Hand zerdrückte, hatte ich viel fürs Leben gelernt. Es konnte doch nicht sein, dass er die Welt so falsch gesehen hatte! Ich war 15 Jahre alt, Gefühle allein genügten nicht mehr, ich brauchte Argumente. Die fand ich – weniger in der Schule –, aber bei einem als mutig bekannten Geistlichen, den meine Freundin und ich ein- bis zweimal in der Woche besuchen durften. Wir lasen aus Ernst Schnabels Geschichte des 19. Jahrhunderts, lernten Romano Guardini kennen, Gertrud von Le Fort und Werner Bergengruen , verstanden durch den Kunsthistoriker, dass wir unsere Kultur nicht dem „nordischen Menschen“ verdanken, sondern der Begegnung der Völker im zentralen Europa. Wir besuchten die romanischen Kirchen in Essen und Essen-Werden, in deren Klarheit sich mehr spiegelte als bloße Kunstgeschichte.

Was dachten unsere Lehrer eigentlich? Die Geschichtslehrerin kritisierte das preußische Dreiklassenwahlrecht, und ich sagte: „Die konnten doch wählen!“ Ich kam lange nicht mehr dran. Die Deutschlehrerin erklärte: „Paul Ernst lesen wir nicht aus literarischen Gründen, sondern aus politischen.“ Es gab Aufsatzthemen, die wir als Tribut ansahen – an wen? An den Zeitgeist? An irgendeine Schulaufsicht? Der Hausaufsatz Ohm Krüger, ein Propagandafilm gegen England, schien mir so etwas zu sein. Ich wurde „freiwillig“ krank, aber als ich zurück kam: „Den Aufsatz müssen Sie nachschreiben, das Thema dürfen Sie sich selber aussuchen!“ Gute Lösung. Es wurde ein Aufsatz über Ernst Wiechert . Die Klassenlehrerin sagte zur Wollsachensammlung für Soldaten im Februar 1942: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Meinte sie nur die Organisation oder den ganzen Feldzug gegen Russland? Kritik war in jedem Fall mutig. Wir gewöhnten uns an, auf die leisen Töne zu achten, auch auf die Doppeldeutigkeit der Sprache. Beim Lebensbericht fürs Abitur hatte ich große Mühe damit, meine Begeisterung für die und meine Abkehr von der NS-Ideologie auszudrücken; ich wusste schon, dass Vorsicht lebenswichtig war.

Allerdings, da gab es jemand, der gar nicht vorsichtig war, unser Bischof Graf von Galen , dessen Hirtenbriefe gegen die Tötung von Geisteskranken wir heimlich weitergaben. Nach langer Besprechung mit dem zuständigen Pastor wurde ich Taufpatin meines jüngsten Vetters. Es war ein ganz neuer Anfang für mich.

Arbeitsdienst, Studium, Kriegseinsätze: die letzten drei Kriegsjahre brauchten einen eigenen Bericht.

Mechthilde Stricker