Das Elsass

Das Elsass, ein Gebiet, um das sich Deutschland und Frankreich jahrhundertelang stritten.
Eine Elsässerin, Jahrgang 1921, erzählt ihrer Nichte aus ihrem Leben.

Meine Heimat ist da, wo ich mich wohl fühle

Liebe Nichte,
du hast mich gefragt, wie das ist, wenn man zwei Nationalitäten hat. Nun, mit 80 Jahren ist mein Empfinden wie in dem Lied:
„Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden, der ewigen Heimat zu.“
Die Tatsache, dass ich von Geburt Französin bin, liegt schon so lange zurück und es hat sich nach dem 2. Weltkrieg im Elsass so viel geändert, dass ich heute nicht mehr dort wohnen möchte. Deine französische Korrespondentin schreibt. „Welches Glück, wenn man Senior ist und in Wirklichkeit oder in Gedanken eine Gegend hat, wo man bekannt ist, wo man geduzt wird, wo man mit dem Vornamen angesprochen wird,. In der Kindheit entsteht die Liebesgeschichte mit dem Land. Das Vaterland ist eine geliebte Landschaft, das Klima, die Geräusche, die Gerüche, die Ernährung. Es sind jedoch hauptsächlich die Menschen, ihre Art zu sprechen, ihr Akzent, ihre Gewohnheiten. Es ist da, wo man sich wohl fühlt, wie ein Fisch im Wasser, wo man sich geliebt und akzeptiert weiß“.
Dies alles ist für mich das Elsass, hauptsächlich mein Geburtsort Herrlisheim. Hier habe ich bis zum 13. Lebensjahr meine Kindheit verbracht. Da lebten meine Eltern, meine Großeltern, fast meine ganze Verwandtschaft, Geschwister, Tanten Onkel Cousins und Cousinen, da liegen sie auf dem Friedhof. Hier kenne ich jede Straße, jedes Haus. Hier werde ich angesprochen, auf der Straße, in den Geschäften:
„Ah! Du bist wieder da! Wie geht es dir?
Anders ist es in Ettlingen, hier wohne ich nun schon 35 Jahre, aber wenn ich einkaufen gehe, werde ich zurückhaltend von wenigen Leuten begrüßt, per „Sie“ angesprochen. Nur wenige kennen meine Geschichte, meine Familie.

Meine Familie
Als ich 1921 zur Welt kam, war das Elsass französisch. Vorher, bis 1918 war es deutsch gewesen. Meine Eltern und alle alten Leute im Dorf sprachen vorher und nach her deutsch, das heißt elsässisch. Die wenigsten verstanden französisch. Gehen wir noch weiter zurück. Vor 1870 war das Land französisch und mein Großvater gab sich Mühe, seinem Sohn die französische Sprache beizubringen. Ich weiß das deswegen, weil ich auf dem Speicher Hefte in Französisch fand. Er war nur Bauer und Schuster, aber es war ihm ein Anliegen, seinem Sohn diese Sprache beizubringen. Diese Generation hat natürlich ihre Kinder in der Liebe zu Frankreich erzogen. Es ist verwunderlich, dass die fast 50 Jahre unter deutscher Hoheit, die Elsässer nicht zu guten Deutschen machten. Man sagt, die Deutschen hatten keine gute Hand in der Behandlung der Elsässer. Sie schickten Preußen statt Süddeutsche in der Verwaltung usw.
Die Elsässer sind keine Franzosen wie die im „Inneren", da wurde immer ein Unterschied gemacht, damals. Es ist auch nicht so, dass die „Franzosen“ vom Innern verklärt wurden, man hatte schon viel an ihnen auszusetzen, jedenfalls waren die Elsässer ganz sicher „français“ und ganz sicher keine Deutschen, verstehe wer es will. Na ja, ich wuchs selbstverständlich als elsässisch-französisches Kind auf, im Kindergarten lernten wir französisch zu sprechen, in der Schule auch 2 mal die Woche deutsch. In der Kirche predigte der Pfarrer meistens deutsch, sonst hätte ihn da keiner verstanden – die Lieder deutsch, im Kindergottesdienst neue französische Lieder, die Zeitung meist deutsch, im Laufe der Jahre mit französischen Artikeln – Behörden waren zweisprachig.

Meine Jugend am Rhein
Mit 13 kam ich in ein Internat und blieb dort bis zum Ausbruch des Krieges. Wir wohnten ja nahe am Rhein. Vor 1918 war auch Verkehr auf beiden Seiten, nach dem Krieg war es Grenzland, wir standen als Kinder oft am Rhein mit den Fahrrädern und rätselten, wer dort drüben wohl wohnt. Es war kein großes Thema, so wie auch nicht Hitlerdeutschland, worüber Witze kursierten. Wir fühlten uns nicht bedroht, wir hatten ja auch die Maginotlinie. Jedenfalls war diese Zeit zwischen den 2 Kriegen im Elsass friedlich, fast idyllisch, ein einfaches Leben, naturnah, konservativ – religiös. Das änderte sich 1939. Ich war zuhause in den großen Ferien, man munkelte von Krieg. Französische Soldaten wurden im Dorf einquartiert. Es war ein herrlicher Sommer und Herbst. Ich war 18 und mir gefiel die Aufregung und dass im Ort etwas los war.
Am 1. September „schellte“ der Gemeindediener in den Straßen den Befehl, das Dorf muss innerhalb von 12 Stunden evakuiert werden. Pferde wurden durch die Armee requiriert. Im Morgengrauen begann der Auszug. Die meisten Leute zogen mit Kuhgespannen und wenig Habseligkeiten auf den Wagen Richtung Willgottheim, südlich von Strasbourg. Es war das Chaos. Tiere wurden losgebunden und liefen weg, Kühe sollten geschlachtet oder wenigstens registriert werden. Es war ein hin und her. Einige sollten aber auch zurückbleiben, zur Überwachung. Bis zum 11. September waren 1165 Flüchtlinge in Marlenheim angekommen. Sie waren zum Teil bei Privatleuten untergebracht. Die Quartiergeber hatten den Auftrag, Tiere und Wagen zu sich zu nehmen. Da hieß es plötzlich, die Leute sollten sich am Bahnhof einfinden zum Abtransport ins Innere von Frankreich. Sie erfuhren, dass ihr Zufluchtsort Chateauneuf in der Haute Vienne war. Dort wurden sie meist in Massenquartieren untergebracht. Die Einwohner waren sehr misstrauisch, sie sagten, die „Boches“ kommen. Es entwickelten sich aber im Laufe der Jahre Freundschaften, den die Leute in der Gegend waren noch ärmer als die Flüchtlinge und die Elsässer waren ja fleißig und ehrlich. Mein Vater wurde als Bahnbeamter an einen anderen Bahnhof abkommandiert, bei Mertzwiller, so dass meine Familie nicht mit dem Treck nach Frankreich kam. Ich kam wieder für ein Jahr ins Internat.

Aus einer Elsässerin wird eine deutsche Lehrerin
Der Krieg nahm seinen Lauf und ab 1940 war das Elsass wieder deutsch. Im Internat waren wir ja streng gehalten und erfuhren nicht viel von der Politik, aber eines Tages hieß es, deutsche Truppen marschieren in die Stadt. Ich schaute mit ein paar Freundinnen hinter geschlossenen Läden auf den Marktplatz, da hörten und sahen wir junge, singende Soldaten marschieren. Mein Glauben an die Erwachsenen bekam einen Riss - das waren ja gar keine Barbaren - was auch immer ich mir darunter vorgestellt hatte. Wir wurden angewiesen, höflich und zuvorkommend zu sein, falls wir etwas gefragt wurden. Aha - vorher patriotische Aufsätze - jetzt höflich! Wo war die Logik? Es war Sommer und es kamen die Ferien. In Herrlisheim waren die Leute von der Evakuierung zurück, sie hatten viel zu erzählen und waren damit beschäftigt, ihre Heimat wieder auf Vordermann zu bringen. Diesmal waren deutsche Soldaten einquartiert. Wir beobachteten sie wie Exoten, aber sie waren korrekt. Wir wurden von den Behörden gut versorgt mit Lebensmitteln, Möbeln, Kleidern usw. Es war klar, das Leben sollte weitergehen und „was drinnen vor sich ging, geht niemand etwas an“. Es legte sich so etwas aufs Land, als ob in eine Familie eine neue Stiefmutter einzieht, Misstrauen, Zurückhaltung, abwarten - manchmal die „Faust im Sack“. Im Elsass waren in vielen Schulen Schulschwestern als Lehrerinnen tätig. Diese bekamen von den Deutschen Berufsverbot und auch unser Internat wurde geschlossen. Ich stand somit auf der Straße und wusste nicht wohin. Mein Vater meinte, ich solle wie er eine Ausbildung bei der Bahn machen. Das wollte ich nicht. Durch Zufall erfuhr ich, dass in Strasbourg eine Schule eingerichtet wurde, hauptsächlich für Schüler, die Lehrer werden wollten, aber auch um so eine Art Abitur (Brevet supérieur) zu erlangen. Das war die Rettung. Ich meldete mich an und ging klopfenden Herzens in die erste Unterrichtsstunde. Zum Glück traf ich eine Schülerin aus dem Internat, Marie Louise Renner aus Hagenau. Jetzt war alles neu: Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Literatur, usw. Dadurch, das Deutsch schon immer als 2. Fremdsprache galt, war allerdings die Sprache selbst kein großes Problem. Natürlich hatten wir Lehrer aus Deutschland. Sie waren vorsichtig mit uns, wir bekamen sogar eine finanzielle Unterstützung, was sehr willkommen war. Ich war noch nie eng religiös oder eng patriotisch gewesen, aber natürlich musste ich manchmal schlucken oder wurde stutzig - aber besser die Schule als daheim. Es war ja noch nicht so, dass es selbstverständlich war, dass die Mädchen einen Beruf lernten. Viele halfen zu Hause in der Landwirtschaft oder lernten Nähen und Hauswirtschaft, alles in der Erwartung zu heiraten. Als das Jahr in Strasbourg zu Ende war, kam nur die Pädagogische Hochschule in Karlsruhe in Frage. Das war ein dicker Brocken, wer A sagt, muss auch B sagen. Ich kannte in der Zwischenzeit ein paar Mädchen, die diesen Schritt auch machten und natürlich auch Marie Louise, die meine Freundin wurde, und so wagten wir den Schritt ins „Reich“. An der Hochschule in Karlsruhe waren kaum Reichsdeutsche - einige Männer, die verwundet waren und seltsam wenig Frauen. Also besetzten wir Elsässer die Schule - leider nur ein Jahr, das sehr schnell vorbei ging. Selbstverständlich wurden wir dann nicht an elsässischen Schulen eingesetzt sondern in Baden.
Meine Eltern sahen das alles nicht sehr gern. An meiner Arbeitsstelle im Odenwald lernte ich nun die deutsche Bevölkerung näher kennen. Es war überall eine gedrückte Stimmung, viele Väter und Söhne waren an der Front, die Frauen waren überlastet und aus den bombardierten Städten kamen immer mehr Frauen und Kinder aufs Land.
Ich war eine deutsche Lehrerin an einer deutschen Schule, aber wir trafen uns oft mit Kolleginnen und wir wussten, dass wir Elsässerinnen waren. Auf der anderen Seite freundete ich mich auch sehr mit deutschen Mädchen und Familien an.
Wie es so kommt, wenn man jung ist und keine jungen Männer auf den Straßen zu sehen waren, fing ich einen Briefverkehr mit einem deutschen Soldaten an, der in Frankreich (Laune des Schicksals) stationiert war. Die Feldpostbriefe, die sehr zahlreich hin und her gingen, waren eine willkommene Abwechslung im dörflichen, oft einsamen Alltag. Wir trafen uns zweimal in seinem Urlaub und verliebten uns heftig. Ja, war das Verrat an der Heimat? Meine Eltern sahen es so und versuchten mit allen Mitteln, mir das auszureden.

Schwieriges Kriegsende für die Menschen in der Grenzregion
Es kam das Jahr 1944, die Invasion in der Normandie. Hier kam mein Verlobter in Gefangenschaft und dann nach Louisiana.
Nun überschlugen sich die Ereignisse:
Eines Tages klopfte es an meine Schulzimmertür, es gab nur ein Klassenzimmer und ich war die einzige Lehrerin. Vor der Tür stand ein junger Mann, mein Gott, welch rares Exemplar und dazu entpuppte er sich auch noch als Elsässer. Warum er nicht eingezogen wurde, weiß ich bis heute noch nicht. Er sagte, er sei der neue Lehrer an dieser Schule. Ich war von den Socken, ich wusste nichts von einer Versetzung, am anderen Tag kam die Bestätigung. Jedenfalls freute ich mich über den Landsmann! Er war ein Linker, würde man heute sagen - ein Patriot. Er wusste eine Menge zu erzählen. Ich musste meine Koffer packen und das Zimmer räumen, aber wir telefonierten oft und trafen uns auch. Er erfuhr, dass im Elsass die Alliierten bei Strasbourg einen Brückenkopf gebildet hatten und dass die Bevölkerung evakuiert wurde. Das Gerücht bestätigte sich, es waren wieder die Dörfer am Rhein, darunter auch Herrlisheim. Zwischendurch hatte ich erfahren, dass mein siebzehnjähriger Bruder eingezogen worden war und dass meine Schwester in Köln dienstverpflichtet war. Die Weihnachtsferien waren angebrochen, und René, eben der Elsässer , bot sich an, mich auf der Suche nach meinen Eltern zu begleiten. Der Krieg hatte in dieser Gegend ganze Arbeit geleistet. Das Dorf hatte einige Male den Besitzer gewechselt, es gab Tote und Verletzte, die Ortschaft war zu 90% zerstört. Während der Kämpfe hatten sich die Einwohner noch in den Kellern aufgehalten. Am 12.12. 44 zog sich die Wehrmacht zurück und die Amerikaner besetzten die Gegend. Man dachte, der Krieg sei aus. In der Neujahrsnacht verließen die Amerikaner den Ort. Völlig unerwartet tauchte am 14 Januar die SS auf, jagte die Leute aus den Kellern. Sie wurden bei grimmiger Kälte und hohem Schnee unter Geschosshagel an den Rhein geführt, hier in kleinen Booten übergesetzt und in Deutschland in alle Winde zerstreut, vom Neckar bis zum Bodensee. Nach manchen Irrfahrten, zu Fuß und per Autostopp, fanden wir die Eltern in Sulzfeld. Sie bewohnten in einem großen Bauernhof bei geizigen Bauern ein kleines Zimmer. Die Schulen wurden geschlossen und ich wurde in eine unterirdische Munitionsfabrik bei Neckarzimmern eingewiesen. Zum Glück konnte ich am Wochenende mit dem Fahrrad zu meinen Eltern fahren, hier fand ich dann auch meine Schwester.
Anfang April zogen französische Legionäre in Sulzfeld ein, damit war dort der Krieg zu Ende. Es gab Plünderungen und Vergewaltigungen. Aber die Elsässer witterten Morgenluft und tatsächlich wurde bald bekannt, dass wir mit Camions nach Hause durften.
Mir wurde es etwas mulmig. Erst noch deutsche Lehrerin mit einem deutschen Verlobten und jetzt sollte ich „rapatriée“ werden. Aber es gab keine Schwierigkeiten, wir kamen in ein Sammellager und dann - nach Hause, in das zerstörte Dorf.
Meine Mutter strahlte - wieder daheim, das war das Höchste. Und ich? Ich stand wieder vor einem neuen Anfang. Mein Bruder kam abgemagert und ernst, aber wohlbehalten nach Hause. Am 14. juillet, dem Nationalfeiertag, wurde überall übermütig die Befreiung gefeiert. Ich konnte das alles nicht so recht teilen. Ich machte mich zu Fuß auf nach Hagenau und dort traf ich tatsächlich meine Freundin Marie Louise. Wir meldeten uns in Paris zu einem Dolmetscherkurs an, bekamen aber nicht rechtzeitig die nötigen Papiere zusammen. Also probierten wir es als Übersetzerinnen bei der Armee in der besetzten französischen Zone. Na, ja, es war nicht das Gelbe vom Ei. Da wir keine Kenntnisse in Schreibmaschine und Büroarbeiten hatten, wurden wir da und dorthin versetzt. Schließlich hatten unsere Bewerbungen als „assistante de français“ an deutschen Gymnasien Erfolg, sie kam nach Wittlich, ich nach Bernkastel. Das war eher nach unserem Herzen und war in diesen Nachkriegswirren eine schöne Zeit.

Trotz aller Hindernisse eine deutsch - französische Heirat und eine glückliche Ehe.
Aber meine Sehnsucht nach dem Verlobten ließ mir keine Ruhe. Als wir von Baden Baden nach Karlsruhe kamen, fuhren ich auf einen Abstecher nach Sulzbach, seinem Geburtsort, um zu erfahren, was aus ihm geworden war. Und siehe da, er war wieder aufgetaucht. Die Französin in Uniform hat ihn fast umgeschmissen.
1946 gingen viele Briefe von Bernkastel nach Baden. Trotz des Fraternitätsverbotes trafen wir uns an meinem 25. Geburtstag in aller Heimlichkeit zu einem schönen Wochenende. Wir setzten uns über alle Schwierigkeiten und Bedenken hinweg und beschlossen, im Februar 1947 zu heiraten.
Nun war ich also wieder eine Deutsche im armen deutschen Reich. Meine Eltern waren sehr unglücklich. Sie hatten meinen Mann noch nie gesehen und wollten es auch nicht. Erst nach der Geburt unseres dritten Kindes bekam er eine Reiseerlaubnis ins Elsass.
Ich hatte einen guten Mann gewählt, den besten von allen meinen deutschen und französischen Bekanntschaften. Wir bekamen sechs Kinder und ich kann nicht sagen, das es französische Kinder sind. Ich hätte es gern gesehen, wenn der eine oder andere sich nach Frankreich orientiert hätte, aber nein.
Ich selber fahre oft ins Elsass und Herrlisheim ist nach wie vor mein Heimatdorf, aber auch hier gibt es Veränderungen. Die elsässische Sprache verschwindet, die Enkel verstehen sie nicht mehr und wollen sie auch nicht sprechen. Ich glaube, die Seele des Elsass verschwindet mit ihr.
Wo bin ich zu Hause?
In meinem Haus und bei den Menschen, die mich lieben. Französisch oder deutsch ist nicht mehr so wichtig, die Welt wird kleiner, die Menschen fahren in alle Länder - Hauptsache Frieden.

Eugéne Lutz, Jahrgang 1921