Erwachsen werden geht langsam

1938 hatte ich mich noch für meine Mutter geschämt, als sie sagte: „98%, das kann nicht stimmen, ich habe NEIN gesagt.“ Ein Jahr später verstand ich sie ein wenig besser. Die Eingezogenen: „Gehen die denn, gehen die wirklich?“ sagte sie. Meine Begeisterung hatte nachgelassen. Es gab einige Menschen, die mir lieb waren, die dem Staat kritisch gegenüber standen. In der ersten Tanzstunde sagte ein schöner Jüngling zu mir: „Wie gut, dass Sie nicht so ein Typ BDM-Führerin sind.(E. fiel in Frankreich)“ Die neue Klassenlehrerin war kurz vor Kriegsausbruch aus England gekommen. Sie ließ uns aus dem Marchand of Venice auswendig lernen: “The quality of mercy is not strained”, Barmherzigkeit erst macht die Mächtigen groß, „Sie segnet den, der sie gibt, und den, der sie nimmt.“ Werte aus einem bei uns nicht propagierten Menschenbild. Wir lasen einen Aufsatz über das Malen von Winston Churchill , so schöne Sprache, so schöne Gedanken. Und bald danach klang es aus dem Radio: „...denn wir fahren gegen Engeland...“

1940 starb mein Vater. Nun musste ich selber denken. Wie eigensinnig war ich doch gewesen, als er mir den schönen Sammelband Regenbogen von Ida Friederike Görres schenken wollte, ich aber murrte, „Ich will die 13 Bücher der deutschen Seele von Wilhelm Schäfer haben.“ Als ich das harte Stechpalmenblatt, ihn nachahmend, in meiner Hand zerdrückte, hatte ich viel fürs Leben gelernt. Es konnte doch nicht sein, dass er die Welt so falsch gesehen hatte! Ich war 15 Jahre alt, Gefühle allein genügten nicht mehr, ich brauchte Argumente. Die fand ich – weniger in der Schule –, aber bei einem als mutig bekannten Geistlichen, den meine Freundin und ich ein- bis zweimal in der Woche besuchen durften. Wir lasen aus Ernst Schnabels Geschichte des 19. Jahrhunderts, lernten Romano Guardini kennen, Gertrud von Le Fort und Werner Bergengruen , verstanden durch den Kunsthistoriker, dass wir unsere Kultur nicht dem „nordischen Menschen“ verdanken, sondern der Begegnung der Völker im zentralen Europa. Wir besuchten die romanischen Kirchen in Essen und Essen-Werden, in deren Klarheit sich mehr spiegelte als bloße Kunstgeschichte.

Was dachten unsere Lehrer eigentlich? Die Geschichtslehrerin kritisierte das preußische Dreiklassenwahlrecht, und ich sagte: „Die konnten doch wählen!“ Ich kam lange nicht mehr dran. Die Deutschlehrerin erklärte: „Paul Ernst lesen wir nicht aus literarischen Gründen, sondern aus politischen.“ Es gab Aufsatzthemen, die wir als Tribut ansahen – an wen? An den Zeitgeist? An irgendeine Schulaufsicht? Der Hausaufsatz Ohm Krüger, ein Propagandafilm gegen England, schien mir so etwas zu sein. Ich wurde „freiwillig“ krank, aber als ich zurück kam: „Den Aufsatz müssen Sie nachschreiben, das Thema dürfen Sie sich selber aussuchen!“ Gute Lösung. Es wurde ein Aufsatz über Ernst Wiechert . Die Klassenlehrerin sagte zur Wollsachensammlung für Soldaten im Februar 1942: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Meinte sie nur die Organisation oder den ganzen Feldzug gegen Russland? Kritik war in jedem Fall mutig. Wir gewöhnten uns an, auf die leisen Töne zu achten, auch auf die Doppeldeutigkeit der Sprache. Beim Lebensbericht fürs Abitur hatte ich große Mühe damit, meine Begeisterung für die und meine Abkehr von der NS-Ideologie auszudrücken; ich wusste schon, dass Vorsicht lebenswichtig war.

Allerdings, da gab es jemand, der gar nicht vorsichtig war, unser Bischof Graf von Galen , dessen Hirtenbriefe gegen die Tötung von Geisteskranken wir heimlich weitergaben. Nach langer Besprechung mit dem zuständigen Pastor wurde ich Taufpatin meines jüngsten Vetters. Es war ein ganz neuer Anfang für mich.

Arbeitsdienst, Studium, Kriegseinsätze: die letzten drei Kriegsjahre brauchten einen eigenen Bericht.

Mechthilde Stricker