Harry Potter

Ich bin eine Großmutter, die gern „Harry Potter" liest. Warum? Wegen des Phantastischen? Sicher nicht. Eher wegen des Althergebrachten, des Vertrauten. Da gibt es einen Jungen, der bei grausamen Verwandten lebt. Es klingt wie in den Märchen, in denen Eltern ihre Kinder fortschicken und Stiefmütter ihnen nach dem Leben trachten. Harry hungert, während sein Vetter Dudley verwöhnt wird – wie die Schwestern Aschenbrödels. Er schläft in einem Verschlag unter der Treppe wie Allerlei Rauh bei den Brüdern Grimm. Vorbilder in der Literatur gibt es auch: Oliver Twist (Dickens, 1838) zum Beispiel oder gar den spanischen Knaben Lazarillo (Tagebuch, 1554).

Da kann es im Internat nur besser werden, wird es zwar, aber es bleibt nicht einfach. Harry und seine Freunde haben es mit guten und bösen Kräften zu tun. Sie erkennen die Gefahren schneller als andere und handeln nach ihrer Einsicht, was ihnen Konflikte nicht erspart. Das zentrale Böse – verkörpert in einer ehemals menschlichen Figur – wirkt in alle Bereiche hinein, in die Schülergruppen und die Lehrergemeinschaft, die Verwaltung und Rechtsprechung, in die Fabelwelt der verwandelten Wesen, ob Menschen oder Tiere. Versteckte Bosheit, denke ich, gibt es auch in unserer realen Welt genug. Luftreisen in Kaminen, auf Tierrücken, in Autos, Laufen in unterirdischen Gängen, Geister, Fabeltiere, Verwandlungen durch Zaubermittel gehören zu den Selbstverständlichkeiten des Alltags. Alles erweist sich als Hilfe oder Hindernis für die Ziele der Freunde, und so spielt der Leser gerne mit. Sagte mir doch ein Fünfzehnjähriger: „So was mit Zauberei dürfen wir nicht lesen!" Meine Verteidigung: Spannung, - na ja -, vor allem aber ist die Wertordnung klar und gut, eben althergebracht.

Und: Die erfundenen Welten in der Literatur sind nicht neu. Zwischen Thomas' Morus' "Utopia" und George Orwell's „1984" finden wir noch viele Utopien mit positiver oder negativer Ausdeutung. „Lilliput" aus Swift's „Gulliver's Travels" ist heute noch vielen Kindern bekannt. Im gleichen Buch lernen wir aber noch sechs andere erfundene Länder kennen, eines zum Beispiel, das über der Erde schwebt, eins, das von Riesen regiert wird, eins mit edlen Pferden, die keine Lüge kennen. Jedes bietet ein Spiegelbild englischen Lebens um 1700. Es wundert mich gar nicht, dass ein edles Mensch-Pferd rettend in Harry's Leben eingreift.

Was gefällt den Kindern heute an „Harry Potter" ? Am besten gefielen ihm, sagte mir ein Zwölfjähriger in der Eisenbahn, „die Schulstunden und die Lehrer und was die Schüler so machen". Freude am Wiedererkennen also, auch wenn es eine englische Internatsschule ist. Hier kann ich ihm herzlich zustimmen, habe ich doch einmal an einer englischen Schule unterrichtet und finde in „Harry Potter" eine streng geordnete Schule vor, dazu die hohe Achtung, die der Einzelne als Mitmensch erfährt. (Neues Thema: Internate in der englischen Literatur.)

Warten wir ab, welche Wege Harry noch gehen muss. Ob seine Welt am Ende friedlicher aussehen wird?

Stricker