Heimat Niederrhein

Ist die Heimat ein Ort, eine Zeit, ein Mensch?
Ich liege im Bett, das Zimmer ist abgedunkelt. Masern? Aber ich habe etwas Herrliches zum Spielen: Randstreifen von Tapeten, die vor dem Kleben abgeschnitten werden, und daraus drehe ich Teller. Wenn ich den Finger in die Mitte drücke, gibt es spitze kleine Tüten. Unten sind die Mutter und die

bauernhaus

Großtante in dem niederrheinischen Haus vom Anfang des Jahrhunderts. Haustür ebenerdig, Mittelgang zum Hof, zwei Zimmer rechts, zwei links. Im Hof die Pumpe, die grüne Bank und Phlox größer als ich, wie ich ihn Doms gesehen habe. Ein Waschhaus als Anbau, ein Stall ohne Tier, ein Seiteneingang durch einen Heckenweg, ein tiefer langer Garten mit schwarzen, weißen, roten und grünen Beeren, ein Buchsbaumbeet. Die letzte Reihe wächst in die Hecke hinein, feucht ist der Boden, Schnecken sind da, keine nackten, alle haben ihr Häuschen dabei. Adam und Eva flohen vor Gott und versteckten sich im Gebüsch. Das war also ein Gebüsch, besser nicht hineingehen! Die Tante sitzt mit dem Rosenkranz am Herd, manchmal mit einer Kaffeetasse, an der sie die Hand wärmt.
Der Vater baut in Duisburg ein Haus, wohnt deswegen bei seiner Mutter, und ich bin drei Jahre alt und erschließe mir die Welt – eine Straße mit vielen Pumpen vor dem Haus, alte Reihenhäuser in der Kleinstadt Rheinberg, eine Schmiede am Ende, Pferde bekommen Hufeisen, es riecht, ein Laden um die Ecke, wo es für zwei Pfennig Bonbons gab, „die, von denen es so viele gibt!“ Die weiße Waffelbettdecke wurde 1946 ein dunkelblaues Kleid, auf das ich stolz war.
Später die Stadt. Fronleichnamsprozession, „Engelchen“, Blumenteppiche, bunt und verschwenderisch, aber schließlich wurde ja Gott durch die Straßen getragen, und noch später lernte ich, dass es da um ein Symbol ging, aber was ist ein Symbol? Dieses verträgt kein „nur“. Die Kirche ist groß, gotisch und alt. Um elf Uhr am Sonntag sitzt bei der Predigt eine lange Reihe rot-weißer Engel im Chor, Messdiener. Aber einmal lässt einer ein Yo-Yo auf- und abgehen, und die plötzliche Erkenntnis: Das sind ja nur echte Jungen!
Sonntag!
Der Bauernhof der Großeltern lag eine halbe Stunde vor der Stadt. Sie kamen mit der Chaise, die Pferde blieben im Stall bei der Wirtschaft am Wall, wo nach der Messe der Frühschoppen und der Gedankenaustausch stattfanden und die Kinder spielten. Die Frauen gingen zu Fuß nach Hause, an der Bahnlinie entlang, durch die tiefer liegenden Wiesen. „Wo habt Ihr Euch zum ersten Mal geküsst, Vater?“ „Auf dem Bahndamm in Rheinberg.“ Nur nicht zuviel Romantik in den kleinen Mädchenkopf, denn offener, langweiliger konnte kein Ort sein. „Stimmt nicht“, sagte die Mutter. „Paßmann“ war ihr Mädchenname, und Paass heißt Wiese, Jahrhunderte haben sie in diesen Wiesen gewohnt, nie auf einem Hügel, nicht einmal auf der Böninghardt.
Was ist wichtig an dem kleinen Universum? Alles, sogar der Mist und das Stokhuis, die Tiere und die Gärten natürlich.

Aber da ist die Großmutter! „Sie ist eine Heilige“, sagte der Prälat mit Rheinberger Kindheit, „sie konnte schenken ohne zu kränken“. Aber sie konnte noch mehr: um fünf Uhr Feuer machen, um sechs Uhr Pfannkuchen backen für die erste Mahlzeit am Tag (mit Speck und Rübenkraut), Weißbrot (Weck) backen im Backhuis, das gar nicht einladend war mit seinem großen Backtrog und dem Ofen wie bei „Hänsel und Gretel“. Auch „Goldmarie“ hat so einen bedient. Und sie konnte meine Haare kämmen, viel besser als meine Mutter, zarter. In die Milchsuppe (Papp) am Abend schlug sie mir ein Ei,opa und beim wöchentlichen Baden in der Zinkwanne kam ich als erste dran. Wie sah das Wasser für die anderen aus?
Der Großvater. Von ihm habe ich meinen Kopf. In einer Gruppe in England wollte man meine Herkunft erraten. Schweden? Nein - „Sie hat eine holländische Kopfform“, sagte einer. Er war nah bei der Wahrheit!

Mein gleichaltriger Vetter Arnold: Er balancierte über den Brückenbogen am „Kentel“, spielte Fußball mit einer Schweinsblase, während das Tier schon zerschnitten auf der Leiter hing, zog ein Rind am Schwanz, dass es vor Schmerz losraste, und wollte mir vielleicht auch imponieren – als wir unsere im Stokhuis aufgebahrte Großmutter mehrmals am Tag mit Weihwasser bespritzten, nicht ohne ein Stoßgebet. „Kauf‘ kein Kalbfleisch!“ sagte er mir in den siebziger Jahren, was ich heute ganz neu verstehe.
Zu diesem Stück Heimat gehören auch die Kopfweiden und Silberpappeln, der Nebel und das Hundegebell, die Holzschuhe. Und nicht zuletzt die Sprache. Dazu gibt es jetzt ein Buch: „Das Rheinberger Wörterbuch“ von Theodor Horster (Jahrgang 1936). Wie gut auch, dass es Heimat- und Geschichtsvereine gibt! Am besten allerdings ist das eigene Erleben.

Mechtilde Stricker, Jahrgang 1924