Kinderlandverschickung

Meine Zeit von 1940 bis 1945

jungvolk

 

Deutsches Jungvolk

Nach den Osterferien 1940 wurde ich Schüler der Städt. Mittelschule in Essen-Steele, gleichzeitig auch Mitglied des Deutschen Jungvolks. Das interessierte mich nicht; denn in unserer katholischen Pfarrgemeinde war man empört über das Verbot der katholischen Jugendverbände und erinnerte sich wehmütig an die ehemals mitreißende Jugendarbeit des Vikars Krott (1929 - 1936) in der Pfarrgemeinde St. Joseph Steele-Horst. In der Zeit der großen Arbeitslosigkeit hatte Vikar Krott von den katholischen Jugendlichen der Gemeinde einen Sportplatz anlegen und daneben zwei ausgemusterte Eisenbahnwaggons als Sport- und Jugendheim aufstellen lassen.

Das Gelände lag hinter meinem Elternhaus, und so erlebte ich als Kind, wie eine Horde von etwa 50 Hitlerjungen mit Äxten und anderen Werkzeugen das Heim zerstörte. Mit lauten Unmutsäußerungen standen zahlreiche Nachbarn umher und mussten ohnmächtig diesen Vandalismus geschehen lassen; denn Polizei hinderte sie, dagegen einzuschreiten. Das Heim stand dann da als empörende Ruine. Für mich blieb der Eindruck sinnloser Gewalt. Es war gefährlich, sich ihr zu widersetzen.

So war mein Bild von der Hitlerjugend von diesem frühen Erlebnis geprägt. Auch Fanfaren- und Trommelklänge, Fahnen und Uniformen konnten keine große Veränderung meiner Einstellung bewirken, zumal ich von meinen Eltern, von Verwandten und Nachbarn abwertende oder reservierte Äußerungen über die Nazis hörte. Ihre Einstellung war noch geprägt von Parteien und Gewerkschaften, die es nicht mehr gab. Sonntags wurden an den Kirchentüren oft Flugschriften verteilt, in denen kirchenfeindliche Äußerungen oder Maßnahmen der Partei oder der Regierung angeprangert wurden. Man fühlte sich unterdrückt oder verfolgt. Der Inhalt von Predigten wurde von Parteimitgliedern mitgehört und der Urheber denunziert. Das jedenfalls fürchtete man.

Im Alter von neun Jahren hatte ich am Morgen des 10. November 1938 Rauchwolken über der Stadt Essen gesehen. Sie stammten von brennenden Synagogen. Später hatte ich auch beschädigte Häuser und Geschäfte gesehen; man hatte Rache an Juden genommen, Was sie getan haben sollten, blieb mir unklar. Die Erwachsenen wirkten verängstigt und empört. Vor uns Kindern wollte man nicht offen darüber sprechen. Ich kannte keine Juden, es sei denn aus der Bibel, wo sie meistens als Pharisäer und verstockte Ungläubige vorkamen. Dass Jesus oder die Apostel Juden waren, hörte ich erst später von einem dagegen hetzenden Lehrer.

An den pflichtgemäßen Veranstaltungen des Deutschen Jungvolks nahm ich nur gelegentlich teil. Das war kein mutiger Widerstand; denn ich hatte in meinem Gesundheitspass eine Eintragung, die besagte, dass ich nur für Heimabende geeignet sei. Das befreite mich weitgehend vom lästigen "Antreten" am Samstag jeder Woche. Dennoch wurde mein Vater eines Tages von Parteimitgliedern in drohender Form auf seine Pflicht hingewiesen, mich regelmäßiger zu den Veranstaltungen des DJ zu schicken. Dort wollte man mich dann zum Feldscher ausbilden. Diese Aufgabe als eine Art Sanitäter interessierte mich. Die Kurse fanden in einem HJ-Heim in Essen statt. Nach einigen Wochen wurden sie aber plötzlich abgebrochen. Man hatte den Leiter wegen homophiler Neigungen angeklagt.

Katholische Jugendgruppe

Im Dezember 1941 wurde ich von gleichaltrigen katholischen Jungen, die wie ich Messdiener waren, und einem 16-jährigen Jungen, den sie mir als ihren Gruppenführer Berni vorstellten, dazu eingeladen, Mitglied ihrer Jugendgruppe zu, werden, zu ihren Heimabenden zu kommen und mit ihnen auf Fahrt zu gehen. Das sei zwar eigentlich verboten, aber das erhöhe gerade den Reiz. Sie hatten sogar ein geheimes Pfeifsignal als Erkennungszeichen. Das gefiel mir, und ich machte mit.

Wir fühlten uns als eine verschworene Gemeinschaft in Treue zu Christus und seiner Kirche. Den religiösen Teil unserer Heimabende gestaltete "unser" Vikar Heinrich Vogel, ein ehemaliger Jugendführer des verbotenen katholischen Schülerbundes "Neudeutschland". Seinem Rat und seiner Führung verdanke ich sehr viel für die Zeit meiner Entwicklung in der Jugend. Mit ihm sangen wir Kirchenlieder, die nicht im gebräuchlichen Gesangbuch der Gemeinde standen, erhielten von ihm religiöse Unterweisung, diskutierten mit ihm nicht nur über Fragen des Glaubens, feierten mit ihm "Jugendmessen" nach neuen liturgischen Vorstellungen im "Tonus rectus" mit deutschen Messtexten, sangen zur Klampfe die Lieder der Jugendbewegung aus dem "Zupfgeigenhansel". Unsere Jugendgruppe unternahm Wallfahrten nach Altenberg oder ging "auf Fahrt" in die Halterner Heide, wo wir in Scheunen übernachteten. Der Verlauf des Krieges und die Einberufung unseres Gruppenführers zum Arbeitsdienst trennten uns, aber es blieb ein reger freundschaftlicher Briefwechsel. Berni ist später in russischer Gefangenschaft an Hunger und Krankheit gestorben.

Die Mittelschule

In der Schule wurde der Unterricht immer häufiger durch Fliegeralarm unterbrochen. Wir gingen dann in den Luftschutzkeller der Schule, wo es eng und stickig war. Einige größere Schüler mussten dort ständig einen großen Ventilator von Hand betreiben, um die Luft erträglich zu machen.

Die Lehrer grüßten mit "Heil Hitler" und mussten auch so gegrüßt werden. Sie begannen den Unterricht mit einem markigen Wort des "Führers", z.B. dass die deutsche Jugend "flink wie’n Windhund, hart wie Kruppstahl und zäh wie Leder" sein müsse oder dass es "nur einen Adel, den Adel der Arbeit" gebe. Dann wurde ein Kampflied gesungen. Besonders gern und laut wurde von uns das "Panzerlied" gegrölt:

Ob's stürmt oder schneit, ob die Sonne uns lacht,
der Tag glühet heiß oder eiskalt die Nacht,
bestaubt sind die Gesichter, doch froh ist unser Sinn:
Es braust unser Panzer im Sturmwind dahin.

Das Ritual amüsierte uns, weil so schon mal ein Teil der Unterrichtsstunde ohne Anstrengung ablief, so hörten wir auch zufrieden grinsend unserem Erdkundelehrer zu, wenn er wieder einmal vom Unterrichtsstoff abschweifte. Denn als Ortsgruppenleiter der NSDAP war er wegen seiner Arbeit für die Partei wohl häufig für den Unterricht nicht vorbereitet. Er verlor sich in Schmähungen gegen die Juden, die Kirche und den Juden Jesus, den er "Jeschu" nannte. Damit war dann die Stunde weitgehend ausgefüllt. Ich fand wenig Motivation zum Lernen.

Folgen des ersten großen Luftangriffs auf Essen

Deswegen war ich zunächst nicht traurig, als die Schule nach dem ersten schweren Luftangriff auf Essen am 5. März 1943 geschlossen wurde. Die Schulen der Stadt wurden, falls sie nicht zerstört waren, für die Unterbringung der Menschen gebraucht, die ihre Wohnung durch Bombeneinwirkung verloren hatten.

Die Schüler der Stadt Essen sollten an der Kinderlandverschickung (KLV) teilnehmen oder Schulen in "nicht luftgefährdeten Gebieten" besuchen. KLV wurde von uns Jugendlichen als Kinderlandverschleppung bezeichnet. Weil meine Eltern befürchteten, dass ich in der KLV nicht im Sinne ihrer christlichen Erziehung beeinflusst würde, lehnten sie diese Möglichkeit einer Fortsetzung des Unterrichts ab, andererseits fehlten ihnen die Mittel, mich anderweitig - z.B. in einem Internat - unterzubringen.

Es folgte eine Zeit großer Ungewissheit. Für etwa zwei Wochen besuchte ich eine Mittelschule in Bochum, dann wurde sie bei einem Luftangriff zerstört. Für mich begannen die längsten Ferien meines Schülerlebens.

Wegen der zahlreichen Luftangriffe auf Städte des Ruhrgebiets gab es schlaflose Nächte im Luftschutzkeller, häufige Lebensgefahr, wenn man die Bomben fallen hörte, befreites Aufatmen, wenn man selbst wieder einmal verschont geblieben war; aber dennoch wurde das alles von uns Jungen auch als großes Abenteuer angesehen, wenn ich mit meinen Freunden, die ebenfalls keinen Unterricht hatten, Granaten- und Bombensplitter sammelte, die Wracks abgeschossener Flugzeuge bewunderte, trotz Verbots feindliche Flugblätter aufsammelte oder nach Blindgängern suchte. Die Erwachsenen hatten kaum Zeit, sich um uns zu kümmern; so verbrachten wir diese Monate - abgesehen von Fliegeralarm - in fast uneingeschränkter Freiheit.

Aber es konnte so nicht weitergehen. Deshalb nahm ich des Angebot wahr, bei unserem Vikar Vogel Latein zu lernen. Das schien mir sinnvoll, weil ich lange schon den Wunsch hatte, das Gymnasium zu besuchen. Außerdem interessierte mich diese Sprache, die ich von der Messliturgie kannte.

Inzwischen hatten die Schulbehörden die Bedenken der Eltern gegen die KLV erkannt. Man erfand eine neue Sprachregelung. Weil die KLV der nationalsozialistischen Indoktrination verdächtigt wurde, mied man diesen Begriff, statt dessen sprach man von "Schulverlegung in nicht luftgefährdete Gebiete". Das schien annehmbar.

Mit Hilfe des Vikars Vogel bearbeitete ich meine Eltern, mich am immer noch als "schwarz" geltenden Carl-Humann-Gymnasium in Essen-Steele anzumelden, dessen Schulbetrieb nach Tirol-Vorarlberg verlegt worden war. Meine Eltern waren einverstanden. Zu dieser Schule hatten sie Vertrauen.

Kinderlandverschickung (KLV) - Galtür

Ein Sonderzug brachte mich mit den restlichen Schülern der Klassen 1 - 4 (heute 5 - 8) am 24.10.1943 nach Tirol-Vorarlberg. Die älteren Schüler leisteten bereits Kriegsdienst oder waren zu anderen Diensten verpflichtet. Andere Schüler des Carl-Humann-Gymnasiums erwarteten uns dort; sie waren schon vorher in einem KLV-Lager in der damaligen Tschechoslowakei gewesen. Ein Teil von uns wurde in Ischgl untergebracht, ich selbst mit den Schülern der Klasse 3 im 10 km davon entfernten Galtür. Beide Orte liegen im Paznauntal.

Nach vorübergehender Unterbringung im Hotel "Rößle", wo wir in Mansarden froren, kam ich mit dreizehn Mitschülern in die kleinere Hotelpension "Ballunspitze". Hier waren wir mit dem etwa siebzigjährigen Lagerleiter, Professor Ashoff, den wir "Unicum" nannten, und dem ca. 16-jährigen Lagermannschaftsführer "Picco" komfortabel in hübsch eingerichteten Doppelzimmern untergebracht. Die Verpflegung war gut, reichte aber manchmal für den großen Hunger pubertierender Jungen nicht aus. Das führte bald zu Spannungen mit dem Lagerleiter, der mit seiner Frau im selben Raum wie wir zu Tisch saß, oft andere Speisen als die Lagermannschaft bekam und vielleicht deshalb unsere Beschwerden nicht an die Küchenleitung weitergab. Wir rächten uns mit vielen Streichen, die ihn - der sich leicht erregte - zu ohnmächtiger Wut reizten.

Vor einem Mittagsmahl fassten wir uns jedes Mal bei den Händen, jemand sagte einen Tischspruch, dann wünschte der Lagermannschaftsführer (Lamafü) guten Appetit. Nach Beendigung der Mahlzeit fassten sich wieder alle bei den Händen, schüttelten sie und sagten: "Wir danken!" Aber eines Tages - nach besonders leckerem, aber knapp bemessenem Essen - wartete einer gar nicht den Dankesspruch ab, sondern rezitierte im Gebetston und in schönstem Ruhrdeutsch:

"0 Häa, dein Diena is satt,
weila nix mäa hat.
Hädda no wat bekommen,
hädda no wat genommen."

Alle waren völlig überrascht und lachten laut. Professor Ashoff aber sprang wie gestochen auf, ergriff den Jungen und verprügelte ihn. Um ihn in erprobter Weise abzulenken, stellten wir uns ganz nah um beide herum und johlten: "Hau, hau, hau!" - Der Lagerleiter ließ von ihm ab, ergriff einen der Umstehenden und prügelte auf den ein, die schreiende Menge ringsum. Erschöpft ließ er dann davon ab und ging weg; die Bande hatte wieder gesiegt. Mitleid mit diesem hilflosen Mann kannten wir damals noch nicht.

Schulunterricht in Galtür

Der Schulunterricht für unsere Klasse fand im ca. 1 km entfernten Ortszentrum im Hotel Fluchthorn statt. Bei Neuschnee fuhren wir mit Skiern dahin. Manchmal aber fiel der Schnee bis zum 1. Stock unseres Hauses, der Ausgang war völlig verweht. In solchen Fällen wurden wir dann in unserem Hause von Prof. Ashoff unterrichtet, sonst gab er, der wahrscheinlich längst pensioniert war, keinen Unterricht, aber er beaufsichtigte mit großer Strenge das nachmittägliche Silentium. Dabei kam es dennoch gelegentlich zu ähnlichen Szenen wie oben geschildert. Mit anderen Lehrern wurden solche Streiche nicht gemacht, ihre Autorität wurde respektiert.

Der Deutsch- und Lateinunterricht machten mir damals besondere Freude, weil die Lehrer es verstanden, unser Interesse zu wecken und durch lebhafte Mitarbeit wach zu halten.

Der Geschichtsunterricht war spannend und forderte genaues Zuhören und Verstehen; denn "Papa" Röskens oder "Lokusbürste", wie wir den Lehrer wegen seiner väterlichen Art und seines Kurzhaarschnitts nannten, bezeichnete mutig den Inhalt unseres Geschichtslehrbuches "Volk und Führer" immer wieder als "Kappes". - Das machte großen Eindruck auf uns und sicherte ihm unsere Hochachtung. Er verlangte Aufmerksamkeit für seine eigene Darstellung der geschichtlichen Zusammenhänge. Wer sich in der nächsten Stunde bei der Überprüfung der Kenntnisse auf den Text des Lehrbuchs berief, erntete Verachtung und die Note fünf oder sechs. Seine Riten und Sprüche wurden auf Heimabenden gern und oft imitiert. - Sehr viel später habe ich erfahren, dass er wegen politischer Unzuverlässigkeit an unsere Schule strafversetzt worden war.

So wie "Papa" Röskens natürlich nicht mit "Heil Hitler" grüßte, so schienen auch die meisten anderen Lehrer keinen Wert darauf zu legen, so zu grüßen oder gegrüßt zu werden. - Diese Lehrer, die ihre kritische Distanz zu den Riten und Parolen der politischen Propaganda spüren ließen, genossen meine Hochachtung. Sie erlaubten uns auch, selbständig kritisch zu denken. An dieser Schule mit solchen Lehrern fühlte ich mich wohl.

Hitlerjugend und Lagerleben

KLV-Lager Ballunspitze war der Einfluss der Hitlerjugend allenfalls daran zu erkennen, dass der Lamafü das Sagen hatte, den Tagesplan erstellte und viele von uns die praktische dunkelblaue Winteruniform trugen. Diese Kleidungsstücke konnten von den Eltern als Massenartikel günstig erworben werden. - Der Plan wurde streng eingehalten, regelte auch den Stuben- und Küchendienst und bestimmte, wer bei den Bauern die Milch für das Lager holen musste.

Die Begegnung mit den Bauern oder den Sennern war freundlich, und sie gab uns Einblick in deren einfaches und schwieriges Leben, das sie unter einem Dach mit dem Vieh führten.

Marschieren oder politische Schulung gab es in der Ballunspitze nicht. Wir hatten genügend Freizeit, die wir zum Basteln, Lesen, Kartenspielen oder Skifahren nutzten, oder wir ärgerten "Unicum". Darüber schrieb später einer von uns, der häufig bettlägerig war, ein Buch mit dem Titel "Unicum und seine Jungen".
Niemand hinderte uns, am Sonntag die Messe zu besuchen. Nicht ohne beklemmende Gefühle konnte man die Kirche betreten, denn in ihrem Vorraum grinsten dem Eintretenden über hundert Totenschädel entgegen. Hinter einer Barriere waren sie vom Boden bis zur Decke an der Wand aufgereiht, bunt verziert mit ihren Initialen und dem Sterbejahr bezeichnet. Man musste pünktlich zum Gottesdienst kommen, wenn man nicht wegen Überfüllung der Kirche in der Nähe dieser unheimlichen Gesellen stehen wollte.

Mitte Mai 1944 kam meine Mutter mit einem Elterntransport für einige Tage zu Besuch. Bald darauf kamen andere Eltern zu einem privaten Aufenthalt und nahmen längeren Einblick in das Lagerleben ihrer Sprösslinge. Dabei wurden sie Zeugen, wie wir eines Abends zu unserer Unterhaltung das Lagerleiterehepaar mit unseren Streichen belästigten. Sie fanden das empörend und teilten das der Lehrerkonferenz mit. Das Lager wurde zur Strafe aufgelöst, das Lehrerehepaar nach Hause geschickt. Erst jetzt sahen wir ein, wie grausam wir diese alten Leute behandelt hatten. Endlich spürten wir Scham und Mitleid.

Die gesamte Lagermannschaft wurde in das KLV-Lager "Rößle" verlegt. Dort schliefen wir nicht mehr in gepflegten Hotelbetten, sondern zu sechs in einem Zimmer in Hochbetten. Es gab scharfen Drill, aber in der Freizeit auch viel Abwechslung unter den ca. 100 Lagerinsassen, oft Klaviermusik im großen Aufenthaltsraum (Klassik, Schlager und etwas, das wir für Jazz hielten, wobei man die seltsamsten Verrenkungen machte), bunte Abende und endlich auch reichlich zu essen. Politische Schulung gab es nicht, aber Tageslosungen beim Morgenappell und kurze Ansprachen dazu.

Hitlerjugend

Nach Vollendung des 14. Lebensjahres musste man der Hitlerjugend beitreten. Dabei hatte man pflichtgemäß in einer Feierstunde gemeinsam mit den anderen einen Eid auf den Führer abzulegen. Ich wollte das nicht und glaubte mich dem entziehen zu können, indem ich zu dem gemeinsam gesprochenen Eid nur die Lippen bewegte; den Mut, mich offen zu weigern, hatte ich nicht.

Damals kamen Werbeoffiziere der Deutschen Wehrmacht in unser Lager, um uns für eine Offizierslaufbahn anzuwerben. Sie wiesen uns u.a. darauf hin, dass die Tendenz bestehe, den Jahrgang 1929, dem ich angehörte, in die Waffen-SS einzugliedern. Ein Annahmeschein als Reserveoffiziersbewerber (ROB) könne das verhindern. Ich meldete mich, weil ich auf keinen Fall zur SS wollte. Zur Belohnung lud uns die Wehrmacht für einige ereignisreiche Tage nach Innsbruck ein.

Kurz vor den Ferien bekam ich eine überraschende Nachricht: Ich durfte am 16. 7. 1944 für vierzehn Tage auf Urlaub nach Hause fahren . Das hatte es noch nicht gegeben. Man hatte uns gesagt, erst nach dem Endsieg kämen wir nach Hause. Ich war der erste in unserem Lager, dem das erlaubt wurde. Meine Freude war groß, ein wenig getrübt war sie nur dadurch, dass als Grund eine Erkrankung meiner Mutter angegeben wurde.

Die meisten von uns hatten Heimweh und phantasierten oft und gern über Fluchtpläne. Aber wer es zu realisieren gewagt hatte, wurde schon im Paznauntal, an dessen Ende Galtür - 42 km von der nächsten Bahnstation Landeck entfernt - gelegen war, nach wenigen Stunden aufgegriffen und zurückgeholt. Es gab keinen anderen Weg. Aus Frust sangen wir oft das Lied:

Wir ziehen in die Weite,
das Fähnlein hängt im Spind.
Die KLV macht pleite,
wenn wir entlassen sind.

Und fragen uns die Leute;
"Warum geht ihr nach Haus?"
Dann schreit die ganze Meute:
"Das hält kein Schwein mehr aus!"

Ich kann mich an kein Detail meiner Heimfahrt erinnern, so sehr war ich wahrscheinlich mit den Gedanken schon zu Hause. Die Wiedersehensfreude war groß, zumal meine Mutter nicht ernsthaft krank zu sein schien.

20. Juli 1944 - Ohnmacht und Furcht

Zu Hause erlebte ich einige Tage nach meiner Ankunft die aufregenden Nachrichten vom Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Zunächst schien die Nachricht kaum glaublich. Es hieß, der Führer sei nur verwundet. Ich war in einem Gewissenskonflikt, denn ich hoffte, Hitler möge tot sein; aber war es erlaubt, einem Menschen den Tod zu wünschen? Gegen Abend sprach Hitler im Rundfunk. Er hatte überlebt. Er pries seine Errettung als einen Wink der Vorsehung, den Krieg mit aller Härte bis zum Endsieg zu führen. Die Verräter sollten unnachsichtlich verfolgt und bestraft werden. - Das ließ Schlimmes befürchten. Öffentlich hatte man Freude über den "glücklichen" Ausgang des Attentats zu heucheln.

Die Lage wurde immer bedrohlicher. Die sieggewohnten deutschen Truppen zogen sich "geordnet" zurück und "begradigten" die Fronten. Viele deutsche Städte waren zerstört. Die alliierten Invasionstruppen zogen von Westen heran. Man hörte bald den Geschützdonner der Front. Die feindlichen Verbände der "fliegenden Festungen" flogen unangefochten in großer Höhe heran, keine Flakgranate konnte sie erreichen, deutsche Jagdflugzeuge sah man kaum noch. Ohnmacht und Angst befiel die Menschen.

Rückkehr ins KLV-Lager

Trotz oder gerade wegen dieser widrigen Lage wollte ich nicht in die KLV zurück. Ich wollte das Kriegsende nicht getrennt von den Eltern erleben. Deshalb ließ ich meinen Urlaub mehrmals verlängern, was mir seltsamerweise zugestanden wurde. Es war inzwischen Ende September, als mein Vater mir erklärte, dass es so nicht weitergehen könne. Ich solle mich entscheiden, wieder in Tirol die Schule zu besuchen oder zu Hause eine Lehre zu beginnen. Ich entschied mich für die Schule. Inzwischen waren die Schulferien längst vorüber.

Weil Züge bei Tage von feindlichen Flugzeugen angegriffen wurden, fuhr ich um Mitternacht am 30.09.1944 ab Essen mit einem "Frontzug". Der fuhr bis Verona über Innsbruck. Dort musste ich nach Landeck umsteigen. Der Zug war leer, angeblich wegen einer Urlaubssperre für die Soldaten. Da die Wagen nicht beheizt waren, kam ich am nächsten Morgen völlig durchfroren in Innsbruck an. In Landeck bekam ich einen der knappen Plätze im Postbus nach Ischgl; dorthin war inzwischen meine Klasse verlegt worden. Wegen des Schulversäumnisses wurde ich von meinen Lehrern sehr kühl empfangen. Da erst wurde mir bewusst, wie weit ich mich zu Hause aus meiner Realität als Schüler entfernt hatte.

Sehr bald hatte ich Anschluss an den Wissensstand der Klasse und auch wieder das Wohlwollen meiner Lehrer. Ich wohnte im Hotel zur Post, einem KLV-Lager mit über 100 Jungen. Der Lagerleiter Spieker war mein Deutschlehrer. Ihn hatte ich schon in Galtür wegen seines interessanten Unterrichts und seiner erkennbaren Abneigung gegen die Nazis schätzen gelernt. Er war musikalisch und erfreute uns in der Freizeit oft mit seinen Darbietungen am Klavier. Er schrieb Theaterstücke und inszenierte sie mit begabten Schülern. Die Aufführungen waren Höhepunkte des Lagerlebens. Manchmal lud er Schauspieler oder Sänger zu Vortragsabenden ein. Unter seiner Leitung war der Aufenthalt menschlich und kultiviert.

Ischgl gefiel mir wegen seiner lieblicheren Landschaft besser als die herbe Steinwüste von Galtür. Schöne alte Bauernhöfe und bunt bemalte Hotels und Pensionen bestimmten damals den Charakter des Dorfes.

Wir durften in der Freizeit den Bauern gegen ein Speckbrot helfen, reparierten Zäune, hackten Holz, beseitigten Muren oder durchstachen Lawinen, um die Straße wieder für Post, Arzt und Verpflegungstransporte freizumachen. Im Herbst suchten wir Pilze und Preiselbeeren für die Küche unseres Lagers. Im Winter standen Skier und Rodel zu unserer Verfügung. Langeweile kam nicht auf, zumal wir in der Freizeit Schach, Skat, Schafskopf oder Doppelkopf mit Ausdauer spielten. Es gab auch einen Wettbewerb zur Ausstattung unserer Zimmer, den die Stube 9 gewann, die ich mit meinen beiden Klassenkameraden Heinz und Arnold bewohnte. Dafür hatten wir gemeinsam Schnitzarbeiten gebastelt.

Der zunächst lässige HJ-Dienst änderte sich, als ein ca. 18 bis19-jähriger Hauptlagermannschaftsführer in unser Lager beordert wurde. Die Meinung drängte sich auf, dass er nicht nur das Lagerleben politischer gestalten, sondern auch den politisch verdächtigen Lagerleiter bespitzeln sollte. Jetzt wurde regelmäßig exerziert, marschiert, abends - obgleich verboten - wurden auffällige Jungen "geschliffen", es gab regelmäßige Morgenappelle, strengere Stubenappelle, politische Schulungsnachmittage und sonntags Morgenfeiern.

An den Schulungsnachmittagen fand ich Gelegenheit, mich missliebig zu machen, weil ich mit einigen katechismusfesten Mitschülern die nur wenig geschulten HJ-Führer verunsicherte, wenn sie gegen Religion oder Kirche ausfällig wurden. Das löste immer wieder allgemeine Schadenfreude aus. So musste ich öfter zum Schleifen erscheinen. Zwar hatte ich immer noch meinen Vermerk in meinem Gesundheitspass, der mich davor hätte schützen können, aber ich machte es aus Trotz eine Zeitlang mit.

Trotz nationalsozialistischer Morgenfeiern wurde auch hier der Kirchgang nicht behindert, falls der Dienstplan pünktlich eingehalten wurde.

Die Morgenfeiern der HJ waren gut geplant und beeindruckend inszeniert Sie appellierten mit Texten und Liedern an die Liebe zum Führer und die Treue zum deutschen Vaterland und hatten fast immer auch etwas mit Mut und Todesbereitschaft zu tun: "Du bist nichts, dein Volk ist alles", und nach Schiller sangen wir: "Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein." Das ging tief ins Gemüt; es musste schön sein, für das Vaterland zu sterben. Und jedes Mal fassten wir uns am Schluss bei den Händen und sangen gemeinsam den kultisch anmutenden Text von Rudolf Alexander Schröder mit der sakralen Melodie: "Heilig Vaterland, in Gefahren, deine Söhne sich um dich scharen"... - Wir waren zutiefst ergriffen: "Eh der Fremde dir deine Krone raubt, Deutschland, fallen wir, Haupt bei Haupt."

Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je in geschlossener Marschkolonne singend durch Galtür oder Ischgl gezogen wären. Der Drill spielte sich auf den Plätzen vor den Hotels ab.. Vielleicht hat man von allzu forschen Auftritten als Hitlerjugend abgesehen, um die Leute nicht unnötig zu provozieren. Wir waren ohnehin Zwangsgäste. Man verhielt sich uns gegenüber distanziert, in der Regel nicht unfreundlich, aber wir waren bestenfalls geduldet. Feindlichkeit spürten wir erst am Ende der Naziherrschaft.

Die letzten Monate des Krieges

Seit Mitte Februar 1945 hatten wir keine Nachrichten mehr von unseren Eltern. Was der Rundfunk meldete, war beunruhigend: Fliegerangriffe und Annäherung der Front an das Ruhrgebiet.

Ende Februar oder Anfang März befahl man mich und die Schulkameraden des Jahrgangs 29 in ein Lager zur vormilitärischen Ausbildung nach Landeck. Die 32 km dorthin mussten wir ohne Verpflegung zu Fuß über die verschneite und vereiste Straße gehen. Als wir abends in der Dunkelheit nass, durchfroren und hungrig am Ziel waren, war die Küche geschlossen, die Heizung kalt, man legte sich in sein Bett mit dem klammen Strohsack und schlief enttäuscht ein. Am nächsten Morgen begann der Dienst. Unteroffiziere der Gebirgsjäger machten uns mit einem Maschinengewehr, dem Karabiner 98 K, Gewehr- und Handgranaten vertraut, lehrten Geländekunde, Tarnung, ließen uns Schießübungen und Wettbewerbe mit Kleinkalibergewehren und Karabinern machen, bildeten uns im Marschieren, Robben und Skifahren weiter aus. Ein invalider Hauptfeldwebel leitete den Lehrgang. Er war mit dem Ritterkreuz, dem Deutschen Kreuz in Gold und dem goldenen Verwundetenabzeichen dekoriert. Abends erzählte er von seinen Kriegstaten und seinen über 40 Verwundungen. Seine Arm- und Beinprothesen bewiesen seine oft wiederholte Aussage: "Man stirbt nicht so schnell."

Nach diesem Lehrgang musste ich zur Musterung; da mir 5 cm an der Mindestkörpergröße fehlten, wurde ich für ein halbes Jahr zurückgestellt. Wir waren kaum wieder im KLV-Lager, als ich zur ROB-Prüfung fahren musste. Auch hier wurde ich wegen meiner Körpergröße zunächst noch als nicht tauglich zu einer Einberufung zum Wehrdienst befunden. Anschließend daran hatte ich Anweisung von anderer Stelle, zu einem mehrtägigen Aufenthalt nach Heiming im Inntal zu kommen, wie es schien zu einer weiteren vormilitärischen Ausbildung. Das traf zwar zu, insofern wir an der Panzerfaust und im Gebrauch von Maschinenpistolen unterrichtet wurden, gleichzeitig aber wurden wir politisch bearbeitet. Der Glaube an den Endsieg, eine bald einsetzbare schreckliche Vergeltungswaffe und die überragende strategische Fähigkeit Hitlers, des "größten Feldherrn aller Zeiten" (GRÖFAZ) sollte uns offenbar wie in einer Gehirnwäsche eingehämmert werden. Immer wieder wurde betont, wir vom Jahrgang 29 seien stark und tapfer, der Führer setze seine ganze Hoffnung auf uns. Er wolle uns geschlossen in der Waffen-SS sehen.

Das also war der Zweck der Veranstaltung! Ein höherer SS-Offizier kam am letzten Tag, ließ uns antreten, hielt eine flammende Rede über die Tapferkeit des deutschen Volkes und die Größe seines Führers und forderte uns auf, bereitwillig dem Wunsch dieses bedeutenden Mannes zu folgen und in die Waffen-SS einzutreten. Dann zog er sich in einen Raum zurück, in den jeder einzeln eintreten musste, und erwartete den Vollzug der Meldung, die ja nur noch eine Sache der Ehre und des Anstands war. Als ich an der Reihe war und ihm meinen Annahmeschein als ROB der Wehrmacht vorlegte, wies er mich angeekelt mit einer unflätigen Beschimpfung hinaus.

Nur wenige Tage war ich wieder in meinem KLV-Lager in Ischgl, als der Lagerleiter zu mir kam und mir mitteilte, ein Divisionskommandeur der Standschützen in Landeck brauche für seine Truppe acht Jungen als Melder. So wie er die Lage beurteile, würde ich trotz meiner Rückstellung doch bald eingezogen; da sei es besser, wenn ich mich hierzu bereit erklärte. Er hatte recht. Wenige Tage später wurden alle anderen Jungen dieses Jahrgangs einberufen; einer von ihnen "hat am 4. Mai am Achensee in Tirol den Tod durch Feindeinwirkung gefunden", wie es in der Schulchronik heißt.

An einem Tag Mitte April warteten wir darauf, nach Landeck zu den Tiroler Standschützen zu fahren. Die Abfahrt verzögerte sich, weil ein Sender im Namen einer "Freiheitsaktion Bayern" dazu aufgerufen hatte, alle kriegsverlängernden Maßnahmen zu sabotieren. Man rief uns in die Gaststube unseres Hotels, damit wir es selbst am Radio hören und dann entscheiden sollten, ob wir noch unseren Dienst antreten wollten; aber unser Warten wurde enttäuscht. Der Sender gab keine Nachricht mehr. Mit gemischten Gefühlen und der Ahnung von einem baldigen Ende der Naziherrschaft und des Krieges fuhren wir dann zu unserem Dienst nach Landeck.

Die Kompanie bestand aus lauter älteren Männern des Paznauntals, die sich untereinander kannten. Wir waren mit ihnen in einer Schule untergebracht. Man kleidete uns in Gebirgsjägeruniformen. Während aber die Älteren zu einigen Übungen kommandiert wurden, gab es für uns nichts zu tun. Wir genossen die reichliche Verpflegung, lagen auf unseren Strohsäcken und spielten Skat und Doppelkopf. Auch zu melden gab es nichts. Doch nach wenigen Tagen wurden wir aus unserer Ruhe aufgescheucht. Bei den Kämpfen am Fernpass hatte es zahlreiche Verwundete gegeben. Sie sollten in der von uns belegten Schule untergebracht werden. Auch wir sollten am Fernpass eingesetzt werden, aber bis dahin noch in der Kaserne in Zams bei Landeck untergebracht werden. Unsere Zugführer räumten die Magazine und verteilten an die Mannschaft und auch an uns italienische Stutzen und Munition, damit wir sie in die Kaserne mitnahmen. Als wir dort anrückten, fanden wir Räume mit Feldbetten ohne Pritschen und Matratzen vor, auch Strohsäcke gab es nicht; insgesamt herrschte Chaos. Wahrscheinlich hatte man damals die Nachricht von Hitlers Tod; aber wir wussten von nichts. Unsere Zugführer protestierten höheren Orts. Unklare Gerüchte von "Abhauen" kamen auf. Dann traten Ältere an uns heran, sagten, dass sie ausrücken wollten und baten uns mitzumachen. Mit zwei weiteren Kameraden unseres KLV-Lagers stimmte ich zu, die anderen fünf hatten Bedenken und blieben.

In dem allgemeinen Durcheinander gelang es der gesamten Kompanie, mit uns drei Jungen das Kasernengelände in geschlossener Marschkolonne zu verlassen. In totaler Dunkelheit - es war ja Verdunkelung geboten - erreichten wir eine große Garage.

Dort erwartete uns ein Spediteur aus Kappl (Dorf im Paznauntal, 9km von Ischgl entfernt) mit einem Lkw, der mit Holzgas betrieben wurde, Wer aus Kappl, Ischgl oder Galtür stammte, bestieg den Wagen. Der war mit den vielen Leuten völlig überladen; selbst auf den vorderen Kotflügeln und auf dem Führerhaus saßen Männer. Einige standen mit geladenen Stutzen auf der hinteren Ladefläche, um eine eventuell folgende Streife abzuwehren. Der Wagen fuhr mit seiner überschweren Ladung nur langsam, an Steigungen mussten mehrere absteigen und schieben; viel Antriebskraft gab der Holzgasgenerator für den Motor nicht her.

Gegen zwei Uhr in der Nacht erreichte der Lkw Kappl. Wir mussten aussteigen und die restlichen 9 km nach Ischgl zu Fuß zurücklegen. Gegen vier Uhr kam ich mit meinen beiden Mitschülern an unserem KLV-Lager an.

Bevor ich zu den Standschützen gefahren war, hatte ich mit zwei Klassenkameraden ein Zimmer im Erdgeschoss bewohnt. Hier klopften wir ans Fenster, Verschlafen kam mein Freund Arnold heran und öffnete es erstaunt. Ich erklärte ihm die Situation und bat ihn, uns einsteigen zu lassen, da ja das Haus verschlossen sei. Ich stieg als erster mit meinem Stutzen durchs Fenster. In dem Augenblick erwachte mein Stubenkamerad Heinz. Er musste mich mit der Uniform und der Waffe für einen Fremden oder einen Einbrecher halten, Vor Schrecken schrie er laut auf. Wir beruhigten ihn. Dann stiegen die anderen ein und schlichen auf ihre Zimmer. Ich fiel müde in mein noch freies Bett und schlief unruhig ein. Was würde man mit uns entlaufenen Standschützen machen?

Nach dem Wecken blieb ich zunächst im Bett. Später kam einer unserer HJ-Führer und forderte auf Anweisung der Lehrerkonferenz, die schnell einberufen worden war, die Herausgabe meines Gewehrs und der Munition. Als Begründung gab er an, es solle kein Unglück damit geschehen. Ich fühlte mich in meiner Ehre gekränkt, gab ihm, was er verlangte, baute aber das Schloss aus und hielt es zurück mit der Bemerkung, jetzt könnten auch andere damit keinen Unsinn machen. Kurz darauf erschien der Lagerleiter, verlangte auch das Schloss und verpasste mir eine dröhnende Ohrfeige. Ich war entwaffnet und wieder ein Schüler. Auch die Waffen der beiden anderen wurden eingezogen und in den letzten Kriegstagen Zivilstreifen übergeben. Sie sollten SS-Soldaten daran hindern, einen mit Sprengstoff beladenen LkW, der in Ischgl abgestellt worden war, aus dem Tal hinauszufahren und den Arlbergtunnel zu sprengen.

Niemand behandelte uns als Deserteure. Als eine Streife kam, die aber nur mäßig interessiert war, jemanden zu finden, versteckte man mich für kurze Zeit im Keller des Hotels. In den letzten Kriegstagen wurden die meisten Anhänger des noch herrschenden Systems zurückhaltender in ihren Verhaltensweisen; so blieb uns eine Bestrafung erspart. Meine Uniform behielt ich; sie war als wärmende Kleidung hochwillkommen. Den Wehrpass verbrannte ich später, als Besatzungstruppen kamen.

Kriegsende

In den ersten Maitagen 1945 füllte sich das Paznauntal mit flüchtenden Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS. LKWs und Pferde standen bald herrenlos umher. Die Ladung der Fahrzeuge wurde geplündert, die Pferde landeten wahrscheinlich in den Ställen oder Brattöpfen der Talbewohner. Es war eine abenteuerliche Zeit für uns Jungen, eine Zeit größter Sorgen für unsere Lehrer. Wer würde sie und die vielen Jungen noch beherbergen und verpflegen, da die bisherige Organisation zusammenbrach und keiner mehr für uns zahlte? Schon die letzten Monate waren schwierig gewesen; die Verpflegung war immer knapper geworden.

Der Krieg ging zu Ende, Offiziere und Soldaten hatten sich in die Berge geflüchtet, die nahe Schweiz lockte als erhoffte Zuflucht. Einige wurden später von Soldaten der Sieger aufgegriffen, manche wurden am Aufgang zum Zeinisjoch erschossen aufgefunden. Aber es dauerte einige Tage, bis Besatzungstruppen nach Ischgl kamen. Wir hatten Hunger. Es gab zwar immer noch etwas zu essen, aber sehr wenig.

Nach der Kapitulation erschienen in unserem Dorf zunächst einmal Jeeps mit amerikanischen Soldaten, Sie waren in Kappl stationiert und machten nur Kontrollfahrten, solange die französischen Besatzungstruppen noch nicht eingetroffen waren; denn Ischgl gehörte zur französischen Besatzungszone.

Die französischen Soldaten aber konnten ihren Teil des Tales nicht über eine Straße, sondern nur vom Montafon aus auf Maultierpfaden über das noch verschneite Zeinisjoch erreichen; denn die Silvrettastraße gab es damals noch nicht. So kam erst Mitte Mai eine Abteilung von ungefähr 15 Soldaten in Ischgl an. Sie führten unter der Führung eines elsässischen Sergeanten, dessen Familie unter den Deutschen großes Unrecht erlitten hatte, ein strenges Regiment. Unser KLV-Lager wurde mehrmals durchsucht. Fahrtenmesser und Naziembleme wurden mitgenommen. Wir durften für einige Zeit das Lager nicht verlassen.

Wöchentlich requirierten die Besatzer bei den Bauern ein Rind, die geschädigte Familie protestierte jedes Mal laut schreiend. Vergebens, das Tier wurde geschlachtet. Die Soldaten ließen das Fleisch in der Küche unseres Hotels zubereiten. Da sie nur die besten Teile für sich beanspruchten, fielen für uns die Innereien ab. Sehr oft gab es nun eine dünne "Bäuschelsuppe". Kutteln sind mir seitdem ein Gräuel.

Ein Sohn des Sprengelarztes aus Kappl, der an unserem Unterricht teilgenommen hatte, war mein Freund geworden. Er hatte mir vieles gezeigt und beigebracht, was ein Junge das Paznauntals in seiner Freizeit macht. Wir hatten Baumbuden und Felsburgen gebaut, Kreuzottern gefangen und uns an Wild herangepirscht. Seit dem Kriegsende wohnte er wieder bei seinen Eltern in Kappl. Als unser Hotelbesitzer jemanden suchte, der einige Rinder nach Kappl treiben sollte, bewarb ich mich darum, um meinen Freund Helmut besuchen zu können. Mir liegt noch ein Laissez passer vom 19. 6. 1945 vor, das mir für den nächsten Tag den Übergang in die andere Zone erlaubte. "Motif: conduire troupeau en montagne." Also trieb ich am 20.6. die Tiere nach Kappl, lieferte sie ab und erlebte ein paar Stunden frohen Wiedersehens mit Helmut, der sich dort schon mit einigen US-Soldaten angefreundet hatte. Ähnliches war mit den französischen Soldaten in Ischgl nicht zu machen.

Die Heimkehr

Als der Mangel in unserem Lager immer drückender wurde, baten unsere Lehrer die Kommandantur der Besatzungsmacht, den Älteren von uns den Heimweg zu erlauben. Sie war einverstanden, doch hatte sie nur beschränkte Kompetenz. Der übliche Weg zum Talausgang war versperrt, weil dort die amerikanische Besatzungszone war. Offenbar gab es zwischen den beiden Besatzungsmächten Kommunikationsschwierigkeiten. So blieb nur der Fußweg über das Zeinisjoch ins Montafon.

Zusammen mit zwei Mitschülern des Jahrgangs 29 bekam ich die Erlaubnis, die Heimfahrt zu versuchen. Wir machten uns am 28. 6. 1945 auf den Weg.

Es wurde eine entbehrungsreiche, abenteuerliche Fahrt. Wir hatten einen schweren Rucksack, ein zerbröselndes Stück Maisbrot als Verpflegung und eine Deutschlandkarte aus dem Erdkundebuch als Wegweiser. Zweimal wurden wir von Besatzungstruppen aufgegriffen und wieder freigelassen. Viele Kilometer gingen wir zu Fuß, fuhren auf LKWs oder in überfüllten Zügen, an denen die Menschen wie Trauben hingen. Manchmal lagen wir auf den Dächern der Waggons oder standen auf dem Tender der Lokomotive, einmal bei strömendem Regen stundenlang auf einem mit Menschen vollgepfropften offenen Güterzug. Mehrfach endlos erscheinendes Warten auf zerstörten Bahnhöfen, es gab keinen Fahrplan. Als ich nach 12 Tagen in meinem Heimatort ankam, das Elternhaus unbeschädigt vorfand und die sorgenvollen Eltern wohlbehalten umarmen konnte, war die Freude unbeschreiblich.

Das Los der Zurückgebliebenen

Meine jüngeren Schulkameraden, denen man die Strapazen und Gefahren einer selbständigen Heimreise nicht zumuten wollte, blieben im KLV-Lager zurück. Sie hatten kaum zu essen. Ende Juli wurden sie in ein Flüchtlingslager bei Landeck geschafft, weil die verantwortlichen Lehrer hofften, von dort aus eher einen Rücktransport nach Essen ermöglichen zu können. Dort warteten aber auf sie noch schlimme Wochen des Hungers, der Verwahrlosung durch Ungeziefer und mangelnde Hygiene und der Gefährdung durch ansteckende Krankheiten. Einzelne wurden von ihren Eltern abgeholt. Die Letzten kamen erst im Spätsommer 1945 in ihre Heimatstadt zurück.

Peter Hupertz, Jg. 1929